© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/10 05. Februar 2010

Hemmungen wurden schnell überwunden
Im Zweiten Weltkrieg wurde sehr rasch auf britischer Seite auf die Strategie des Terrorbombing zurückgegriffen / Teil 1
Hermann Schubart

Während des Zweiten Weltkriegs wurden über Deutschland Flugblätter der Alliierten mit dem Text abgeworfen: „Denk bei jeder Bombe dran / Diesen Krieg fing Hitler an!“ Damit wird ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Kriegsbeginn 1939 und den späteren eigenen Bombardierungen hergestellt. Dieses Argument aus der alliierten Kriegspropaganda hat sich mittlerweile zur herrschenden Meinung in der geschichtspolitischen Deutung des alliierten Bombenkriegs in Deutschland entwickelt. Dabei sind die historischen Umstände der Entstehung des Luftkriegs wesentlich differenzierter.

Der Bombenkrieg von 1939 bis 1945 hat in seiner theoretischen Konzeption eine umfangreiche Vorgeschichte. Hier sei nur der wichtigste Vertreter erwähnt, nämlich der italienische General Giulio Douhet. In seinem Buch „Il dominio dell’aria“ (1921) liefert er die grundlegenden Gedanken für einen künftigen Krieg, der nur durch Luftüberlegenheit zu gewinnen sei. Mit der These, daß alle Mittel recht seien und das mächtigste der Bomber sei, avancierte er zum  Theoretiker des Bombenkrieges, in dem vor allem die Lebenszentren und moralischen Kräfte zu vernichten seien, bis hin zu planmäßigen Terrorangriffen gegen die Zivilbevölkerung.

So überrascht es nicht, daß Großbritannien das einzige Land war, das – auch aufgrund seiner geostrategischen Lage – nach dem Ersten Weltkrieg den Schluß zog, zukünftige Kriege würden durch Bomber entschieden. Exponent solcher Vorstellungen war der RAF-Chef (Chief of the Air Staff) Air Marshal Lord Hugh Trenchard, der die Doktrin von der Überlegenheit der Bomber entwickelte, die sich darin zeige, daß im Kriege der moralische Faktor zur materiellen Wirkung im Verhältnis zwanzig zu eins stehe. Diese Überzeugung wurde zur Grundlage des strategischen Denkens der RAF. „Man kann (...) sagen, daß der Bombenkrieg der ganze Daseinszweck der RAF war“ (John Terraine). Seit 1936 gehörte die strategische Luftoffensive konzeptionell in ihren Operationsplan. Schwerpunkte waren Flächenbombardierungen und Demoralisierung der Zivilbevölkerung sowie eine tiefe Zerrüttung der Heimatfront.

Mit diesem Hintergrund und dem Bauauftrag für 500 Bomber im Jahre 1938 und einer Gesamtzahl von fast 2.000 Bombern ging Großbritannien 1939 in den Krieg. Bereits 1936 war die Gliederung der britischen Luftwaffe durch ein System funktionaler Kommandos ersetzt worden, in dem die Bomber und Jäger der strategischen Bomberoffensive zentrale Bedeutung hatten. Daß die RAF darauf ausgerichtet war, wird auch dadurch deutlich, daß ein Heeresunterstützungskommando erst im November 1940 gebildet wurde, also anfangs gar nicht vorhanden war.

Auch in der deutschen Luftwaffe lieferte Douhet Stoff für Bombardierungsphantasien. Diese wurden jedoch durch die Luftwaffendruckvorschrift (L.Dv.) Nr. 16 Luftkriegführung von 1935 zum Teil rigide eingeschränkt. Die beste Luftverteidigung war demnach der Luftangriff, das heißt der operative Einsatz gegen die Luftwaffe des Gegners im Feindgebiet und die Erringung der Luftüberlegenheit. In der Rangfolge stand als nächstes, stark landkriegsorientiert, die Unterstützung des Heeres und auch der Marine und an dritter Stelle der Kampf gegen die „Kraftquellen der feindlichen Wehrmacht“ und die Zerstörung der Nachschublinien zur Front, also der Industriezentren, unter Umständen auch in Gebieten mit großer Bevölkerungsdichte.

Terrorangriffe auf Städte waren aber grundsätzlich abzulehnen, Vergeltungsangriffe erst bei Terrorangriffen des Feindes denkbar. Die Luftverteidigung lag überwiegend bei der Flak, die von Jägern ergänzt werden sollte. Bei Kriegsbeginn verfügte keine Seite über eine Bomberwaffe, die Ziele exakt treffen konnte.

Nebenwirkungen in Form von Schäden außerhalb der militärischen Ziele wurden in Kauf genommen, aber niemand wollte vor den Augen der Weltöffentlichkeit als erster die Zivilbevölkerung bombardieren. Weder die Doktrin der RAF noch die der Luftwaffe führten unmittelbar zum Terrorluftkrieg. Entscheidend ist das jeweilige tatsächliche Verhalten der Luftstreitkräfte mit ihren Operationsbefehlen und Absichten als sichere Grundlage für eine Beurteilung.

Die Bomben auf die befestigte polnische Stadt Wielun am 2. September 1939 galten nur militärischen Zielen im Zusammenhang einer ausschließlichen Unterstützung der Bodentruppen. Eine am Abend vorher festgestellte polnische Division und eine Kavalleriebrigade sollten bekämpft werden. Außerdem befand sich dort ein wichtiger und frontnaher Verkehrsknotenpunkt. Wegen Bodennebels wurden aber Ziele verfehlt. Obwohl es subjektiv von Betroffenen so empfunden werden konnte, war dies kein bewußter Terrorangriff, wie das auch vom französischen Luftwaffenattaché General Armengeau festgestellt wurde.

Ähnliches galt für die Bombardierung Warschaus, einer verteidigten Stadt in Frontlinie. Vom 16. bis 24. September 1939 waren die Verteidiger fünfmal zur Übergabe aufgefordert worden, was aber von polnischer Seite mit Verzögerungen und einem Täuschungsmanöver beantwortet wurde; man hoffte immer noch auf eine Entlastung durch die Westmächte. Mehrmalige Flugblatt­aktionen brachten kein Ergebnis. Fast 300 Personen des diplomatischen Auslandspersonals konnten noch am 23. September ausreisen, bevor zwei Tage darauf der Angriff begann. General Wolfram von Richthofen hatte einen Terrorangriff vorgeschlagen, was aber abgelehnt wurde. Bombardiert wurden in erster Linie Militär- und Industrieziele. Aber es gab auch eine große Anzahl ziviler Opfer. Nach Artikel 25 der Haager Landkriegsordnung war dieser Angriff auf eine belagerte Festung erlaubt, denn er geschah zur Unterstützung der Belagerungsstreitkräfte. Dieser Angriff verletzte also kein Kriegsrecht, was später auch britische Militärwissenschaftler festgestellt haben.

Im Westen fanden zunächst nur geringe Luftaktivitäten statt. Von September bis Dezember griffen beide Seiten Schiffe in der Nordsee mit unterschiedlichem Erfolg an. Einen Markstein bedeuteten die drei Luftschlachten über der Deutschen Bucht Anfang Dezember. Während auf deutscher Seite nur wenige Verluste zu verzeichnen waren, büßte die RAF über die Hälfte der eingesetzten Bomber ein, die unbegleiteten Bomberverbände bei Tage scheiterten an der deutschen Jagdabwehr.

Dieses Desaster führte zu einer grundlegenden Neubewertung. Bomberoffensiven sollten auf Anweisung des Air Staff an das Bomber Command (13. April 1940) nicht mehr tagsüber stattfinden. „Folglich gingen die Briten nahezu postwendend zur Flächenbombardierungsoffensive in Nachteinsätzen über“ (Williamson Murray). Es war den Engländern klar, daß jedes Nachtbombardement nur unterschiedslos sein konnte. Indem das Bomber Command nun zu einer nachtkampffähigen Truppe umorganisiert wurde, erhielt der Luftkrieg einen völlig neuen Charakter.

Den Winter über flog die RAF hauptsächlich Flugblatteinsätze (in acht Monaten 65 Millionen Exemplare). Diese dienten der Ausbildung der Besatzungen in Navigation und Blindflug und insofern der Vorbereitung auf den strategischen Bombenkrieg. Weil man aber die deutsche Luftwaffe nicht provozieren wollte, wählte man die deutsche Flotte auf See und machte auch selbst keine unterschiedslosen Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Diese Zurückhaltung bedeutete aber keine Aufgabe der Doktrin, sondern ein momentanes Lavieren.

Die Folge auf deutscher Seite war der Aufbau der Nachtjagd. Der Aufstellung eines ersten Nachtjagdgeschwaders am 1. Juli 1940 folgte am 17. die erste Nachtjägerdivision.

Foto: Luftaufnahme der Altstadt des zerstörten Heilbronn am 31. März 1945: Nach der Bombenkriegsstrategie waren alle Mittel recht, um die Lebenszentren und moralischen Kräfte des Feindes zu vernichten

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