© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/10 05. Februar 2010

Evangelische Kirche in Deutschland
Gefangen in der Welt
von Erik Lehnert

Die Aufregung, die in den letzten Wochen um den Gerhard-Löwenthal-Preis und vor allem seinen Träger Helmut Matthies herrschte, scheint alle Erfahrungen mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu bestätigen. Mit der fadenscheinigen Begründung, die Auszeichnung berge die Gefahr, „daß die Tabu­grenze im Graubereich zum Rechtsextremismus weiter nach unten verschoben wird“, forderte der Bildungsdezernent der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, Christhard Wagner, Matthies zur Rückgabe des Preises auf.

Zu Recht fragte sich der Leser, was eine „Tabugrenze im Graubereich“ und wer eigentlich Christhard Wagner ist. Jedem, dem die Mechanismen des Rufmordes in der gegenwärtigen Bundesrepublik vertraut sind, ist klar, daß es egal ist, was die Aussage bedeutet und welche Person sich hinter dem Namen verbirgt. Im „Kampf gegen Rechts“ zählt bereits der gute Wille, und der erste Schuß muß nicht unbedingt tödlich sein. Es reicht, wenn alle gesehen haben, daß geschossen wurde. Dazu braucht es keinen geübten Schützen.

Was also auf den ersten Blick aussieht  wie eine der gewohnheitsmäßig veranstalteten Treibjagden, bekommt eine besonders infame Note durch die Tatsache, daß hier die evangelische Kirche zur Jagd bläst. Bei der Kirche handelt es sich zwar auch um eine Institution, die insofern vergleichbar mit Parteien, Medien und „zivilgesellschaftlichen Initiativen“ ist. Doch auch wenn sich die Evangelische Kirche nur ungern daran erinnert, ist sie gleichzeitig mehr als eine Institution. Die Positionierung in politischen Auseinandersetzungen ist nicht ihre Hauptaufgabe.

Wenn es ihr gelegen kommt, beruft sich die EKD durchaus auf diese übergeordnete Rolle – so in der Frage um den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, den die EKD-Vorsitzende Margot Käßmann mit scharfen Worten verurteilt hat. Das Argument, daß die Soldaten dort für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte kämpften, wies Käßmann zurück. „Als Christen können wir nicht vom gerechten Krieg reden“, sagte Käßmann der Zeitschrift Stern. Die Aufgabe der Kirche sei es, zum Frieden aufzurufen: also kein „Wehret den Anfängen“, sondern Appeasement bis hin zum Märtyrertum.

Mit einer so begründeten Haltung hätte vermutlich kaum jemand ein Problem, wenn man nicht gewohnt wäre, von der EKD auf jede aktuelle Frage eine moralpolitische Antwort zu bekommen. Mit der gleichen Argumentation müßte die EKD, wenn sie konsequent wäre, Abtreibung ablehnen und könnte in der Fristenlösung nicht das kleinere Übel sehen. Denn auch der Einsatz in Afghanistan könnte das kleinere Übel gegenüber vielen denkbaren Szenarien sein. Warum in der Afghanistan-Frage eine solche Antwort und keine andere?

Die Antwort hat nichts mit dem Wort Gottes und der Nachfolge Jesu zu tun, sondern mit der Verwandlung von Luthers Kirche in eine moralische Institution, die das Vertrauen in den eigenen Glauben verloren hat, die sich nicht mehr an Gott, sondern am Menschen orientiert. Darin liegt die eigentliche Bedrohung, die sich für evangelische Christen ergibt, die in Zeiten der „Wiederkehr des Glaubens“ mehr denn je einer auf die Bibel gegründeten Kirche bedürfen.

Die Verwandlung der evangelischen Kirche in eine moralpolitische Institution läßt sich nicht zuletzt mit den Stellungnahmen der EKD zum Thema Rechtsextremismus illustrieren. Auch wenn es paradox klingen mag, führt diese Frage auf den Kern des Selbstverständnisses der EKD. Deren 11. Synode verabschiedete am 29. Oktober letzten Jahres einen Beschluß, in dem es unter anderem heißt: „Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland ist beunruhigt, daß rechtsextremes Gedankengut, das sich vermehrt in brutalen Gewalttaten äußert, in ganz Deutschland vorzufinden ist … Wir beklagen sowohl rechtsextreme Einstellungen bei Gliedern unserer Kirchgemeinden als auch zunehmende antichristliche Ressentiments und Vorfälle von seiten Rechtsextremer.“

In der Stellungnahme von Christhard Wagner zum „Fall Matthies“ war vom „Graubereich zum Rechtsextremismus“ die Rede. Offenbar ist der EKD nicht klar, was sie meint. Geht es ihr um strafbare Handlungen oder legitime Meinungsäußerungen? Der Verfassungsschutz sagt, alles was gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) gerichtet ist, sei extremistisch und damit verboten. Allerdings „sind zum Beispiel Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf verändern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muß nicht befürchten, daß er vom Verfassungsschutz beobachtet wird; jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt.“ Da schon der Verfassungsschutz Probleme hat, zwischen Radikalismus (ist in Ordnung, geht) und Extremismus (geht nicht) zu unterscheiden, wie soll das der Pfarrer vor Ort leisten?

Der EKD geht es nicht um konkrete Fälle von Rassismus oder Antisemitismus, die man ja ganz normal zur Anzeige bringen könnte, sondern um die Gleichschaltung ihrer Mitglieder. Wenn in Mecklenburg Kandidaten für den Gemeindekirchenrat ein Bekenntnis zur FDGO unterschreiben müssen, wenn von der EKD festgestellt wird, daß die Demokratie „nach christlicher Überzeugung die beste aller Gesellschaftsformen“ sei, nimmt daran kaum jemand Anstoß. Doch in dieser Überhöhung der zivilgesellschaftlichen Normen und Werte liegt der Krebsschaden des deutschen Protestantismus, der immer wieder zutage tritt. Denn sollte nicht gerade der christliche Glaube zur Demut führen und damit zu der Einsicht, daß man sich in weltlichen Dingen auch irren kann? Ist der Glaube an Christus nicht viel umfassender als das Bekenntnis zur Demokratie? Die Demokratie ist auf dem besten Wege, Christus als Glaubensinhalt zu verdrängen. Jeder, der an ihr zweifelt, wird aus der Gemeinschaft der Heiligen ausgestoßen.

„Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft oder ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“: Mit diesen Worten wandten sich die Teilnehmer der Synode in Barmen 1934 gegen die Vereinnahmung der evangelischen Kirche durch den Nationalsozialismus. Die „Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen“ gehört bis heute zu den zentralen Lehrzeugnissen der evangelischen Kirchen und ist den zivilgesellschaftlichen Dogmen längst zum Opfer gefallen.

In einer Arbeitshilfe zum 75jährigen Jubiläum der Bekenntnissynode wird betont, daß sich die zitierte dritte These gegen die organisatorische und ideologische Gleichschaltung im Dritten Reich richtete. Selbst in „heutige Sprache“ übersetzt, wird die These noch wie folgt wiedergegeben: „Von daher lehnen wir es strikt ab, daß die Kirche ihre Botschaft und ihre Ordnung entweder nach eigenem Belieben ändert oder dem Zeitgeist anpaßt, also an gerade herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen ausrichtet.“

Wenige Seiten später wird bemängelt, daß man damals die Frauen vergessen hatte, weil in den Thesen nur von Brüdern die Rede sei. Daß die „Vorherrschaft der Brüder“ (über die Schwestern) schließlich auf der kirchlichen Leitungsebene überwunden wurde, sei „meiner Generation der 68er ein besonderes Anliegen“ gewesen, schreibt eine Pfarrerin. Abgesehen davon, daß es sich um ein erschreckendes Reflexionsniveau handelt (oder stehen die Achtundsechziger außerhalb der Zeit?), hat die evangelische Kirche einen Punkt der Wirklichkeitsverweigerung und Politisierung erreicht, der staunen macht: Was bedeutet es, wenn die These weiterhin gültig ist, das Dritte Reich aber der Vergangenheit angehört?

Die Kirche darf dem Ansinnen, sich in politischen Fragen zu äußern (beispielsweise Wahlempfehlungen auszusprechen), auch heute nicht nachgeben: „Sie hat das Wort Gottes zu verkünden, aber nicht politische Urteile abzugeben. Ein politisches Urteil in einer konkreten politischen Situation ist nicht das Wort Gottes. Die Theologie hat streng darüber zu wachen, daß keine Vermischung christlichen Glaubens mit einem politischen Programm eintritt“ (Karl Barth, 1933). Aus einer solchen Vermischung würde konsequent folgen, daß politisch Andersdenkende von denjenigen, die meinen, eine christliche Politik zu machen, als unchristlich stigmatisiert werden.

Um nichts anderes geht es im erwähnten EKD-Beschluß. Er zielt darauf ab, eine bestimmte politische Haltung als Konsens in der Kirche durchzusetzen und alle, die diese nicht teilen, als unchristlich, latent rechtsextremistisch zu bezeichnen. Das bedeutet aber, den Glauben zu verraten: „Die Kirche hat dem Volk, sie hat im Staat das Wort Gottes auszulegen nach der heiligen Schrift. Die Freiheit des Evangeliums hängt daran, daß es keine anderen Quellen kirchlicher Verkündigung gibt: kein Buch des Schicksals, der Geschichte, der Natur, der Erfahrung, der Vernunft“ (Karl Barth, 1933) – und eben auch nicht die freiheitliche demokratische Grundordnung.

In bezug auf die Verkündigung des Wortes gibt es zwischen Demokratie und Nationalsozialismus nur einen graduellen Unterschied. Die eine läßt sich einfacher mit den christlichen Forderungen in Einklang bringen als die andere. Die Verabsolutierung einer weltlichen Ordnung ist aber immer eine Gefahr. Denn auch für die Demokratie gilt: „Jede innerweltliche Position, die sich für das Letzte erklärt, ist eine Absage an Gott. Ob sie will oder nicht. Denn das Letzte ist Gott. Und Gott ist da“ (Otto Dibelius und Martin Niemöller, 1937).

Im Gegensatz zu Nationalsozialismus und Sozialismus hat es die Zivilgesellschaft geschafft, der evangelischen Kirche eine neue Letztorientierung zu geben. Das hat nichts mit der Einsicht zu tun, daß man der weltlichen Macht in weltlichen Dingen zu gehorchen hat. Der Wandel des Glaubensinhalts stellt alles in Zweifel: Hat Jesus sich nicht der Aussätzigen, der Verstockten angenommen, hat für sie gebetet und hat natürlich gewußt, daß der himmlische Vater es richten wird? Und brauchen die Fehlgeleiteten, Verführten und Verbohrten nicht gerade das Wort Gottes und die Gemeinschaft der Christen? Ist die Zivilgesellschaft da eher gefordert als der Pfarrer?

Wenn sie vom Glauben abgefallen sind, müssen wir für sie beten. Wenn sie nicht glauben, bleiben sie trotzdem seine Kinder. Soll man sie verstoßen, weil sie sich nicht zur Demokratie bekennen? Müssen wir das Glaubensbekenntnis ändern? Bestellen wir einen evangelischen Geheimdienst, der feststellt, wer wirklich glaubt (und nicht nur so tut)? Können Monarchisten keine Christen sein? War Luther kein Christ? Solche absurden Fragen müßte sich die Kirche stellen, wenn sie ihre eigenen Verlautbarungen konsequent zu Ende denken würde.

Die zivilgesellschaftliche Gefangenschaft der evangelischen Kirche in Deutschland ist eine Tatsache, mit der sich jedes ihrer Mitglieder auseinandersetzen muß. Die Rückbesinnung auf den Ursprung der Reformation ist dabei entscheidend. Im Mittelpunkt stand immer der Glauben, wie er in der Heiligen Schrift gelehrt wird, gegen die verweltlichte Papstkirche. Die Kirche als Institution hat im Gegensatz zum Katholizismus sekundären Charakter. Ihre Gefangenschaft muß für den einzelnen Gläubigen kein Grund sein, den Glauben zu verwerfen.

Aber auch wenn die unmittelbare Wahrnehmung etwas anderes nahelegt, die Krise des Christentums umspannt alle Konfessionen in allen Ländern. Die unterschiedliche Intensität darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Transformation der Kirchen in moralische Institutionen überall stattfindet. Davon bleibt die eigentliche Entscheidung, sich zu Christus zu bekennen und ihm zu gehorchen, völlig unberührt. Diese Entscheidung ist die einzige Möglichkeit, sich dem Zugriff moralischer Anmaßungen zu entziehen.

 

Dr. Erik Lehnert, Jahrgang 1975, studierte Philosophie, Geschichte sowie Ur- und Frühgeschichte. 2006 promoviert über Karl Jaspers und die Philosophische Anthropologie. Anschließend war er Lektor bei der Edition Antaios und Redakteur der „Sezession“. Seit 2008 ist er Geschäftsführer des Instituts für Staatspolitik (IfS). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Deutschland in der Gegenwart: „Die Situation, in der wir stehen“ (JF 33/09).

Foto: Das zivilreligiöse Evangelium der Evangelischen Kirche: Auch wenn es zunächst paradox klingen mag, führen die Stellungnahmen zum Rechtsextremismus auf den Kern des Selbstverständnisses einer Kirche, die sich nicht mehr an Gott und der Heiligen Schrift, sondern am Menschen orientiert

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