© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/10 12. Februar 2010

Terror gegen die feindliche Moral
Die Bombenkriegsstrategie der britischen Royal Air Force: Schon vor „Bomber-Harris“ galt die deutsche Stadt als Ziel / Teil 2
Hermann Schubart

Bei der Umstellung der britischen Luftkriegsdoktrin auf den strategischen Bombenkrieg gegen deutsche Städte war der 10. Mai 1940 in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. An diesem Tag flogen 45 He 111 der Kampfgruppe 51 von Landsberg aus zur Bombardierung des Flugplatzes Dijon-Longvic. Wegen schlechter Sicht warfen drei vom Kurs abgekommene Maschinen ihre Bomben auf Freiburg im Breisgau ab, töteten wegen dieser Fehlnavigation 57 Menschen, darunter 27 Kinder und 11 Soldaten, und verletzten 101 weitere Personen. In der deutschen Propaganda wurde dieser irrtümliche Angriff als Beginn der Terrorangriffe der Westmächte dargestellt.

An diesem 10. Mai begann der Westfeldzug, der sich indirekt auch auf die Luftkriegführung zwischen Großbritannien und Deutschland auswirken sollte. Die deutsche Luftwaffe konnte in einem geradezu klassischen Zusammenwirken mit den Heeresoperationen einen triumphalen Luftherrschaftssieg verbuchen. Da nachhaltige alliierte Luftangriffe über dem Ruhrgebiet zunächst nicht zu verzeichnen waren, konnten die deutschen Jagdflieger mehrheitlich zur Heeresunterstützung herangezogen werden.

An diesem 10. Mai begann aber auch in Großbritannien eine neue Ära. Nach dem Rücktritt Chamberlains bildete Winston Churchill ein Kriegskoalitionskabinett. Am 11. Mai gab er die allgemeine Bombardierung des deutschen Hinterlandes frei. Dies bedeutete nichts weniger als eine Grenzüberschreitung in der Entwicklung des Bombenkrieges, da nun Angriffe hinter dem Operationsgebiet von Landstreitkräften vorgesehen waren, also ein Luftkrieg ohne Beziehungen zu Erdoperationen. Damit setzte Churchill auch die Douhet-Theorie vom strategischen Bombenkrieg in Kraft. Noch in derselben Nacht bekamen dies Städte im Ruhrgebiet zu spüren. Mönchengladbach war die erste bombardierte deutsche Stadt, vier Zivilisten, darunter auch eine dort lebende Engländerin, waren die Opfer.

Eine Zuspitzung der Situation erfolgte kurz darauf. Am 14. Mai brachen deutsche Truppen bei Sedan durch die französische Front, so daß der französische Ministerpräsident Paul Reynaud einen Hilferuf wegen eines stärkeren Einsatzes der RAF für nötig hielt. Die Entscheidung darüber fiel in der Sitzung des britischen Kriegskabinetts am 15. Mai. Die Bitten des Bündnispartners wurden abgelehnt, weil man sich auf die Abwehr im eigenen Land konzentrieren wollte. Außerdem beschloß das Kriegskabinett einstimmig den Bombenkrieg gegen das deutsche Hinterland, um durch diese strategische Luftoffensive die Erdfront in Frankreich zu entlasten.

Man erwartete nämlich, daß die deutsche Seite als Folge einer solchen Bomberoffensive ihre Flak- und Jagdverbände zur Heimatluftverteidigung abziehen und die deutschen Bomberangriffe gegen England lenken werde. Deswegen spricht der britische Militärhistoriker Denis Richards von einer „informal invitation to the Luftwaffe to bomb London“. Die neuen radargeführten Jäger sollten dann mit der Luftwaffe fertigwerden. Diese Entscheidung war also keine Reaktion auf die bisherige deutsche Luftkriegführung. Das bestätigte auch der britische Völkerrechtsexperte und Staatssekretär im britischen Luftfahrtministerium James M. Spaight: „Wir haben angefangen, Ziele auf dem deutschen Festland zu bombardieren, bevor die Deutschen begannen, Ziele auf dem britischen Festland zu bombardieren. Das ist eine historische Tatsache.“

Damit stellt sich die Frage nach der völkerrechtlichen Bedeutung dieses Schrittes. 1923 war eine Verabschiedung der Haager Luftkriegsregeln gescheitert, also bleibt der Rückgriff auf die Haager Landkriegsordnung von 1907 mit ihren Artikeln 25 bis 27 und der Martensschen Klausel in ihrer Präambel, die auch künftige Entwicklungen der Waffentechnik mit einschließt. Wer in diesem Zusammenhang argumentiert, es gebe keinen Unterschied zwischen Kampfgebiet und Hinterland und somit keine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten mehr, der hebelt alle völkerrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung aus. Dann ist ihr gegenüber fast alles erlaubt. Dabei ist aber das Kriegsvölkerrecht gerade zu diesem Zweck geschaffen worden.

Am 14. Mai, also fast zeitgleich, wurde die verteidigte Stadt Rotterdam bombardiert, nachdem sie ergebnislos zur Kapitulation aufgefordert worden war. Der Angriff geschah zur Unterstützung einer Heeresoperation, war also keine Verletzung des Kriegsvölkerrechts. Er sollte abgebrochen werden, wenn rote Leuchtkugeln die Kapitulation in letzter Minute anzeigten. Eine der zwei Bomberformationen konnte diese zu spät verschossenen Leuchtkugeln wegen des brennenden Dampfers „Stratendam“ nicht erkennen, so daß 57 Maschinen doch noch 97 Tonnen Sprengbomben abwarfen und fast eintausend Opfer zu beklagen waren. Die britische Propaganda machte daraus 30.000 Tote. Bei der Entscheidung der Londoner Regierung am Tag darauf zur strategischen Bomberoffensive gegen Deutschland spielte, nachweisbar durch die Protokolle des Kriegskabinetts, Rotterdam jedoch keine entscheidende Rolle.

Der Luftkrieg erfuhr eine weitere Steigerung durch das Unternehmen „Seelöwe“, die geplante Landung auf der britischen Insel, die Hitler mit seiner Weisung Nr. 17 am 1. August 1940 befohlen hatte. Unabdingbare Voraussetzung dazu war die Erringung der Luftherrschaft über England und den Kanal. Ab 8. August wurden im Zuge des verschärften See- und Luftkriegs Flußmündungen und Hafeneinfahrten durch Luftminen verseucht, auch Radarstationen angegriffen, bevor am 13. August unter der Bezeichnung „Adlertag“ die planmäßigen Großangriffe auf die RAF begannen. Ziele der Luftwaffe in Südengland waren außer der britischen Jägerwaffe in der Luft hauptsächlich militärische und industrielle Einrichtungen am Boden und Hafenanlagen.

Während Churchill sich längst auf eine totale Kapitulation Deutschlands festgelegt hatte, gab sich Hitler der Illusion hin, er könne London zum Einlenken bewegen. Ein Friedensangebot vom 19. Juli war am 22. Juli zurückgewiesen worden. Trotzdem hoffte er, durch eine schonende Behandlung der britischen Bevölkerung einen politischen Umschwung zu befördern. „Terrorangriffe“ blieben weiterhin verboten, und bis in den September hinein weigerte sich Hitler, die Bombardierung Londons zu genehmigen.

Am 24./25. August kam es dennoch zu einem versehentlichen Bombenabwurf auf Londoner Gebiet, der eigentlich Rochester und Thameshaven treffen sollte. Die Piloten wurden wegen dieses befehlswidrigen Verhaltens bestraft. Die englische Feuerwehr hatte 76 „incidents“ genau registriert, auf einer London-Karte wurden sie „accurately plotted“, und die Times sprach am 26. August von einem „nur ganz geringen Schaden“. In London war also klar, daß es sich um keine gezielte Flächenbombardierung handelte. Churchill nutzte diesen Anlaß propagandistisch jedoch übersteigert aus und ließ bereits ab dem 25./26. August in den folgenden Nächten Berlin als Vergeltung bombardieren. Der dritte Angriff am 30. August führte in Spandau-Siemensstadt zu 14 Tagen Produktionsausfall.

Wie von Churchill kalkuliert, reagierte Hitler nun am 4. September mit der Freigabe von Nachtangriffen auf militärisch relevante Ziele in England. Am 5./6. September waren die Dockanlagen das Ziel. Nach weiteren britischen Angriffen auf zivile Einrichtungen in Berlin am 6./7. September folgten am Abend darauf schwere deutsche Angriffe auf London und britische Flugplätze. Dieser Angriff auf London ist im Sinne der vom Völkerrecht erlaubten Repressalie zu sehen, also als Reaktion und Selbsthilfemaßnahme zur Unterlassung von Unrechtshandlungen. 65 Tage lang folgten Nachtangriffe auf London und umgekehrt auf Berlin. Wegen der erfolglosen Luftschlacht über England am 15. September („Battle of Britain“) wurde zwei Tage später das Unternehmen „Seelöwe“ verschoben.

Der Angriff auf Coventry am 14. November 1940 galt dem Zentrum der britischen Rüstung mit den Rolls-Royce-Flugzeugmotorenwerken im Stadtzentrum und war insofern eine zulässige Kriegsoperation. 17 Fabriken der Rüstungsindustrie, innerhalb von Wohngebieten über die ganze Stadt verstreut, boten trotz der 568 zivilen Opfer und  4.330 zerstörten Häuser ein legitimes Bombenziel, was auch von britischer Seite so gesehen wird. Auch nach eigenem Verständnis war das ein ideales Ziel, da die RAF-Doktrin durch die Auswahl von Industriezielen in der Nähe von Wohngebieten die Brechung der zivilen Moral vorsah. Das zum ersten Mal eingesetzte X-Gerät ermöglichte ein sehr genaues Zielen auf die Fabriken. Alle wichtigen wurden getroffen.

Die „Wurzeln der Air Force stecken in Coventry“, stellte Lord Max Aitken Beaverbrook, der Minister für Flugzeugproduktion, trotzdem fest. Die Beurteilung als Terrorangriff durch die britische Propaganda beeinflußte die Weltmeinung nachhaltig. Selbst NS-Propagandaminister Joseph Goebbels trug dazu bei, indem er den Ausdruck „Coventrieren“ für die Zerstörung einer Stadt aus der Luft schuf. Da seit April 1940 die Entschlüsselung des deutschen Funk-Codes möglich wurde, war die Londoner Führung vom bevorstehenden Angriff unterrichtet. Die Geheimhaltung war so wichtig, daß Churchill übrigens gezielte Evakuierungsmaßnahmen verbot.

Der unterschiedslose Flächenangriff der RAF auf Mannheim am 16. Dezember 1940 zielte auf eine reine Wohnstadt ohne Industrie- und Militäranlagen von Interesse. Mit Billigung des Kabinetts am 13. Dezember 1940 war dies der „erste auch der Absicht nach reine Terrorangriff auf eine deutsche Stadt“ (Horst Boog), mit dem die Innenstadt getroffen werden sollte. Dies ließ ahnen, was noch kommen konnte. Lord Viscount Cherwell, vormals Frederick Lindemann aus dem Badischen, rechnete als Churchill-Intimus diesem vor, daß eine Bombardierung von Wohngebieten der Wohlhabenden wegen der aufgelockerten Bauweise weniger effektiv sei als ein Flächenbombardement der dichtbesiedelten Arbeiterviertel.

Als Oberkommandierender des Bomber Command war dann Luftmarschall Arthur Harris der willige Vollstrecker der Lindemann-Strategie. Sofort nach seiner Kommandoübernahme am 14. Februar 1942 erfolgte die Anweisung „Area Bombing Directive“ des britischen Luftfahrtministeriums. Mit dem Konzept der gezielten Einäscherung der dichtbesiedelten Lübecker Altstadt am 28. März 1942 (Zitat Harris: „Historischer Stadtkern brennt gut“) und eines konzentrierten Angriffs (erster 1.000-Bomber-Angriff auf Köln am 30. Mai 1942) entwickelte er den Krieg gegen zilive Städte bis zur höllischen Perfektion, wie sie sich besonders schrecklich in Hamburg 1943 oder schließlich in Dresden 1945 offenbarte.

Foto: Bomberverband im Angriff, das brennende Lübeck 1942, der britische Luftmarschall Arthur Harris: Schon im Mai 1940 stellte Churchills Kriegskabinett die Weichen zur Bombenkriegsstrategie

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