© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/10 19. Februar 2010

Willkommene Sündenböcke
Schweiz I: Das laute Poltern gegen Deutsche ist auch ein Ventil für zunehmende Überfremdungsängste / Unkenntnis der Befindlichkeiten
Lubomir T. Winnik

Anfang des 15. Jahrhunderts trennten sich die Eidgenossen faktisch vom Reich – und tatsächlich fuhren sie besser. Wahrscheinlich bis heute. Es war ein bewußter Entscheid, den die Deutschen aber nie zur Kenntnis genommen zu haben scheinen“, klagte die rechtsliberale Zürcher Weltwoche anläßlich des Streits um gestohlene Bankdaten von mutmaßlichen bundesdeutschen Steuerflüchtlingen (JF 6/10).

Die eidgenössische Boulevardpresse oder das Schweizer Fernsehen ist oft weniger zimperlich: Genüßlich werden Passanten interviewt, welche die Deutschen mehrheitlich für arrogant halten. Die Zahl der bundesdeutschen Zuwanderer breche angesichts der dort steigenden Arbeitslosigkeit alle Rekorde! Viele Krankenhäuser seien bereits in deutscher Hand. Jetzt eroberten die „Schwaben“ (so die traditionelle Bezeichnung für die Deutschen) sogar Universitäten, Krankenkassen und Versicherungen.

„Das Personal unserer Klinik besteht fast zu hundert Prozent aus Deutschen. Sie sind zuverlässig, arbeitsam – einfach gut“, erklärte der Schweizer Direktor der Uniklinik Zürich in einer Fernsehreportage. Andererseits kam es an derselben Uni vor einem Jahr zu einem handfesten Aufruhr, als ein Studentenvertreter sich wegen der großen Zahl bundesdeutscher Professoren und Assistenten beklagt und von einer „Germanisierung“ gesprochen hatte. Etwa 250.000 bundesdeutsche Zuwanderer leben inzwischen in der Schweiz – fast alle sind gut ausgebildet, vom Facharbeiter über den Handwerksmeister bis hin zum Ingenieur und Hochschulprofessor. Immer mehr Schweizer nehmen sie als Konkurrenz um gutbezahlte Stellen wahr.

Forschungsinstitute versuchen das Phänomen der deutschen „Invasion“ und den Unmut darüber sogar wissenschaftlich zu erklären. Man geht dabei zurück bis zum Basler Frieden von 1499 oder ins Jahr 1648, als sich die Schweiz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges endgültig vom Reich lösen konnte. Dieser steinige Weg zur Selbständigkeit habe im kollektiven Gedächtnis der Eidgenossen seine Spuren hinterlassen. Vor allem die unterschiedliche Geschichte in den letzten 150 Jahren habe aber zu unterschiedlichen Auffassungen von Grundüberzeugungen und der Bewertung von Erfolgsrezepten und Tugenden geführt.

Kommission gegen Rassismus schreitet bislang nicht ein

In der aufgeheizten Debatte schwingt aber auch ein ungesprochener Aspekt mit: Über „die Deutschen“ äußern sich die Diskutanten lauthals und unverblümt, denn sie laufen dabei keine Gefahr, als Rassisten gebrandmarkt zu werden. Würde ähnlich tabufrei und ungehemmt über Zuwanderer anderer Religionszugehörigkeit oder dunklerer Hautfarbe gesprochen, dann wäre längst die 1995 gegründete Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) eingeschritten. Die Innenminister Didier Burkhalter (FDP) unterstehende Behörde hat unter anderem mit dafür gesorgt, daß über 140 echte oder vermeintliche „Rassisten“ zu empfindlichen Strafen verurteilt wurden.

Denn der verschärfte Artikel 261 des schweizerischen Strafgesetzbuches ist ein „Gummiparagraph“, vergleichbar den einstigen Regelungen über „staatsfeindliche Hetze“ im 1990 zusammengebrochenen Ostblock. Marcel Niggli, Jura-Professor an der Universität Freiburg (Fribourg), ist Autor eines 500seitigen Kommentars zum Artikel 261. Diese Strafnorm sei der Höhepunkt einer unklaren, verwirrenden und verwirrten Gesetzgebung, meint Niggli. So wanderten nicht nur radikale Skinheads oder Holocaust-Leugner hinter Gitter, sondern auch engagierte Kritiker des religiösen Schächtens wie der Gründer des Vereins gegen Tierfabriken (VgT), Erwin Kessler.

Wenn etwa Italiener (die größte ausländische Zuwanderernationalität) „Tschingg“ genannt werden, Balkanstämmige als „Jugos“ abqualifiziert, Slawen als „schmutzig“ bezeichnet oder Zigeuner als „rumänische Diebe“ umschrieben werden, greift die EKR nicht ein. Auch innerschweizerische Animositäten sind bislang nicht justitiabel. Daß Fremde – wenn sie zahlreich kommen – in der Regel nicht mit offenen Armen empfangen werden, ist wohl überall auf der Welt normal.

Und doch denken die durchschnittlichen Schweizer weiter mehrheitlich positiv über die Deutschen – denn Eigenschaften wie Arbeitsamkeit, Qualitätsbewußtsein oder Pünktlichkeit wissen auch die Eidgenossen zu schätzen, sie sind ja auch ihnen zu eigen. Eine Ursache der Mißverständnisse liegt auch in der deutschen Unkenntnis der schweizerischen Mentalität – eher verschlossen, wenig spontan, vorsichtig. Wer nicht Schwytzertütsch beherrscht, wird zwar freundlich akzeptiert, doch selten in die Familie aufgenommen. Der Dialekt ist für die Deutschschweizer eine echte Muttersprache und das Zeichen nationaler Identität. Sie wollen sich nicht damit quälen, zwischen Hochdeutsch und Schwytzertütsch übersetzen zu müssen. Und daß die potentiellen Arbeitsplatzrivalen zudem nicht aus dem sprachlich verwandten alemannischen Süddeutschland stammen, sondern mehrheitlich nördlich des Weißwurstäquators groß geworden sind, verstärkt die Abneigung zusätzlich.

Das eigentliche Problem sind aber weder CDs mit Kundendaten, die das einträgliche Bankgeschäft bedrohen, noch weggeschnappte Arbeitsplätze oder arrogante Hochdeutschsprecher, sondern die wachsende Zahl der Ausländer im allgemeinen und der Bundesdeutschen im besonderen – sie stellen inzwischen 15 Prozent der etwa 1,7 Millionen Ausländer in der Schweiz. Ihnen stehen lediglich sechs Millionen Schweizer Bürger gegenüber.

Etwa 40 Prozent aller Ausländer und ein zunehmender Teil der Einbürgerungswilligen kommen aus kulturfremden Nicht-EU-Staaten. 1980 lebten beispielsweise offiziell nur 56.600 Muslime in der Schweiz, im Jahr 2000 waren es schon 310.800, wie viele es inzwischen sind, weiß niemand genau. In den deutschsprachigen Kantonen Aargau, Zürich und St. Gallen war vor zehn Jahren schon fast jeder Zehnte ein Anhänger Mohammeds. Das im vorigen Jahr per Volksabstimmung beschlossene Bauverbot für Minarette (JF 50/09) war Ausdruck dieser aufgestauten, aber – dank EKR-Kuratel – nur hinter vorgehaltener Hand geäußerten Ängste.

Da kommen die Bundesdeutschen als willkommenes Druckablaßventil gerade recht. Sie sind stellvertretend zu Sündenböcken geworden für eine unheilvolle Einwanderungspolitik – gefördert von rot-grünen Multikulti-Aposteln einerseits und der nach billigen Lohndrückern lechzenden Wirtschaftslobby andererseits.

Foto: Zeitungstitel zum Bankdatenstreit: Arrogante Bundesdeutsche oder alles nur Mißverständnisse?

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