© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/10 19. Februar 2010

Sprachkritik
Über Schuld, Scham und Schande
von Konrad Adam

Die Sprache gilt als Spiegel des Verstandes: Wer gut spricht, scheint klar zu denken. Das gilt auch umgekehrt: Wer richtig denkt, wird gut sprechen. Das enge Wechselverhältnis zwischen Sprache, Bewußtsein und Verstand hat die Weltverbesserer von rechts und links seit jeher dazu verführt, mit Hilfe der Sprache die Wahrnehmung zu gestalten und über das Bewußtsein die Wirklichkeit zu verändern. Die Großen und die Kleinen Brüder haben sich das nicht zweimal sagen lassen und sich der Sprache bedient, um mit Hilfe des Denkens die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Die harte Version dieser Theorie heißt Zensur, die weiche und moderne heißt „Political Correctness“. Beide unterscheiden sich in den Mitteln, verfolgen allerdings dasselbe Ziel. Um die Wirklichkeit zu beherrschen, wollen sie die Gedanken kontrollieren, und um die Gedanken zu kontrollieren, bedienen sie sich der Sprache. Wie überall, wo gelenkt, gegängelt, beaufsichtigt und überwacht wird, erzeugt die Gesinnungskontrollpolitik auch hier einen gewaltigen Konformitätsdruck. Das Denken wird einförmig, vorhersehbar und langweilig; und die Sprache spiegelt das wider.

Die Folgen zeigen sich im Alltag immer dann, wenn etwas Außerordentliches passiert. Tragik ist ja im lau und langweilig gewordenen Alltagsleben nicht mehr vorgesehen, und wo sie dennoch auftritt, da versagt die Sprache. Nachdem ein achtzehnjähriger Schüler in Verdacht geraten war, seine gesamte Familie – Vater, Mutter und zwei Schwestern – erschossen zu haben, richteten seine Freunde und Freundinnen eine aus Kerzen, Bildern und Blumen gebildete Mahnwache her, auf der sie folgende Mitteilung deponierten: „Wir glauben an dich und deine Familie und senden Liebe. Andy, mach kein Scheiß! Wir sorgen uns um dich. Wir sind für dich da. Scheiß auf die Medien“, und so weiter.

Natürlich ist es schwer, zumal für junge Leute, auf eine Tat zu reagieren, die jeden Rahmen sprengt und eben deshalb, wie man sagt, sprachlos macht. Was hier zutage tritt, ist aber etwas anderes; es ist so etwas wie gesprochene Sprachlosigkeit. Die halben Kinder wollen trauern; ihre Gefühle sind offenbar lebendig und verlangen nach Ausdruck. Nicht Unfähigkeit zur Trauer liegt hier vor, sondern Unfähigkeit, seine Trauer zu äußern. Der modische Zwang, unter allen Umständen – auch angesichts eines mehrfachen Mordes – cool zu bleiben, macht sie verlegen. Sie wollen reden, können es aber nicht mehr.

Auf die Frage, warum das so ist, drängen sich mir zwei Gründe auf; der eine von ganz allgemeiner, der andere von eigentümlich deutscher Art. Als allgemeines und weitverbreitetes Motiv wäre die Abneigung gegen das Vielfältige und das Bunte zu nennen, der abgeschmackte Haß auf das Typische und Individuelle, den bereits Jacob Burckhardt bemerkt und beklagt hatte. Alles muß über einen Kamm geschoren werden, und dieser Kamm ist selbstverständlich made in England.

Der Wunsch nach Vereinheitlichung und Egalisierung, nach Normung und Verbilligung ist allgegenwärtig; niemand und nichts darf sich ihm entziehen, die Sprache schon gar nicht. Sie wird zur Information degradiert, bildet die Unterklasse eines Allerweltsbegriffs, der seinerseits alles mögliche umfaßt: Gesang eines Vogels, Briefe jeden Inhalts, Gesetze und Verordnungen, Musik „vom Trommelschlag bis zur Neunten Symphonie“ sowie „Literatur vom Telefonbuch bis zur Bibel“ – um hier nur eine knappe Auswahl aus dem Katalog zu geben, den eines der großen Kinder, die seinerzeit als Schulreformer durch das Land zogen, mit dem perversen Stolz des Bilderstürmers angefertigt hat.

Die Nachgeborenen, die vorgeben, sich des Deutschen zu schämen, tun alles andere als das. Sie können sich ja gar nicht oft und laut genug zu ihrer Scham bekennen, die grell und laut und auf eine verquere, fast schon obszöne Weise stolz ist.

Gewichtiger als dieses erste scheint mir jedoch ein zweites, spezifisch deutsches Motiv zu sein. Wie vieles andere geht es in seinem Ursprung auf die Zeit des Dritten Reichs zurück. Als späte Antwort auf den Mißbrauch, den das Deutsche unter der Zwangsherrschaft der Nazis erfahren hatte, glaubt der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant eine bewußte Zurückhaltung im Umgang mit einer Sprache ausgemacht zu haben, die er polemisch „gebellte Sprache“ nennt. Ganz Europa, meint Trabant, „hat das deutsche Gebell gehört, es hat sich tief in das Gedächtnis der Völker eingegraben“. Wer heute irgendwo auf der Welt den Fernseher einschalte, dem werde in kürzester Zeit gebelltes Deutsch entgegenschallen: „Jawoll, Herr Obersturmbannführer! Antreten! Raus!“ – und so weiter.

Die im Kasernenhof und im KZ gebrüllte Sprache habe die Erinnerung daran, daß dies ja auch die Sprache Goethes und Brentanos war, überlagert und weitgehend verdrängt; und das nicht nur im Ausland, sondern in Deutschland selbst. Das Wissen um die Herkunft der gebellten Sprache hat nach Trabants Vermutung eine Art Sprachscham erzeugt, deren Auswirkungen wir erst ganz allmählich begriffen. Seit sie den Schaden ermessen könnten, den ihre Sprache in der NS-Zeit erlitten hat, sprächen die Deutschen in jeder Hinsicht erheblich leiser.

Tun sie das wirklich? Der Zusammenhang zwischen der jüngeren deutschen Geschichte und der Verlegenheit, um nicht zu sagen: dem Mißtrauen, das sich im Umgang mit der deutschen Sprache eingeschlichen hat, ist zu offensichtlich, um ihn hier noch einmal darlegen oder nachweisen zu müssen. Deutsch gilt bei vielen als die Täter- und die Mördersprache, die zu gebrauchen Erklärungen, gelegentlich sogar Entschuldigung verlangt. Dies eingeräumt und anerkannt, stellt sich dann allerdings die Frage, wie der Zusammenhang denn in Erscheinung tritt, wie er sich auswirkt und im einzelnen bemerkbar macht. Sind die Deutschen im Gebrauch ihrer Sprache tatsächlich vorsichtiger, zurückhaltender, vielleicht sogar leiser geworden? Darf oder muß man den Stil, in dem die Nachgeborenen auf das gebellte Deutsch der Väter reagieren, als schamhaft bezeichnen? Die Symptome sind klar; aber ist Sprachscham die richtige Diagnose?

Da habe ich doch meine Zweifel. Ich sehe die Zusammenhänge ähnlich wie Trabant, glaube aber, anders als er, daß sie das Gegenteil von Scham hervorgebracht haben – wir also, um die Lage richtig zu bezeichnen, eher von Schamlosigkeit als von Scham zu sprechen hätten.

Denn was ist Scham, und wie äußert sie sich? Die Urszene findet sich in der Schöpfungsgeschichte, wo sich das erste Menschenpaar, nachdem es vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, vor Gott verbirgt, weil es sich seiner Nacktheit bewußt geworden ist und deshalb schämt. Nur so, als Zeichen äußerster Verlegenheit, als hilfloser Ausdruck des peinigenden Bewußtseins, nicht aus noch ein zu wissen und sich buchstäblich, wie die geläufige Wendung lautet, in Grund und Boden zu schämen, wirkt das Gefühl authentisch. Sich schämen heißt, um es mit Günther Anders’ nur scheinbar paradoxen Worten zu sagen: nichts dagegen tun zu können, daß man nichts dafür kann. Wer sich schämt, möchte am liebsten unsichtbar werden; er will gerade nicht groß herauskommen, sondern tritt zurück, am liebsten so weit, daß man von ihm nichts mehr sieht und hört.

Diejenigen, die vorgeben, sich des Deutschen zu schämen, tun aber alles andere als das. Sie können sich ja gar nicht oft und laut genug zu ihrer Scham bekennen; vor allem Joschka Fischer, der zweifellos bekannteste Vertreter der neuen deutschen Schamkultur, hat es verstanden, aus der öffentlich vorgetragenen Versicherung, sich seiner Herkunft, seiner Kultur und seiner Sprache zu schämen, politisches Kapital zu schlagen. Indem er sich scheinbar klein machte, hat er den großen Auftritt gesucht, wahrscheinlich auch genossen. Der tiefe Schatten, den das Dritte Reich bis heute wirft, hat ihm als Hintergrund gedient, sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Die Scham der Nachgeborenen ist grell und laut und auf eine verquere, fast schon obszöne Weise stolz. Sie dementiert, was sie behauptet, und zeugt vom Sünden- oder Sühnestolz der nachgewachsenen Generation.

Für ihr Schuldbewußtsein gilt das gleiche. Auch hier war Joschka Fischer allen anderen voraus, als er im parlamentarischen Untersuchungsausschuß, der den oder die Verantwortlichen für den Visa-Skandal ermitteln sollte, dem Schriftführer in die Feder diktierte: „Schreiben Sie: Fischer ist schuld!“ Was ja nichts anderes heißen sollte als: Die Schuldfrage betrifft mich nicht, ich bin in jedem Falle schuldlos. – Die junge Frau, die im Gefolge der Studentenrevolte Lehrerin geworden war, hat sich dazu in aller Offenheit bekannt, als sie von ihrem Wunsch sprach, sich selbst und alle weiteren Generationen von Schuldgefühlen zu erlösen: als ob so etwas möglich wäre!

Die Peinlichkeit des Anspruchs liegt in der Aufspaltung des Schuldbegriffs. Die Schuld soll ja nicht eigentlich erkannt und gesühnt, geschweige denn bewältigt werden; sie wird bloß einseitig verteilt: Schuld sind die anderen, schuldlos ist man selbst. Das Schuldgerede zielt auf das Gegenteil von dem, was es behauptet. Wer sich als Kind der Nachkriegszeit, wie tatsächlich geschehen, ein Hemd mit dem Aufdruck „Ich bin schuld!“ überzieht und damit durch die Straßen läuft, treibt mit dem Entsetzen über die zwölf Jahre seinen Scherz. Muß man nicht angesichts solcher Exzesse Hannah Arendt beistimmen, die in den öffentlich vorgetragenen Schuldbekenntnissen von Leuten, die frei von jeder persönlichen Schuld sind, ein Zeichen von moralischer Verwilderung erkannte?

Zu dem Gebrauch, den manche Leute vom Wort Schande machen, wäre dasselbe zu sagen. Auch dieses Wort wird ja recht gern dazu benutzt, um von der wahren Schande abzulenken. Um hier nur an das letzte jener blamablen Ereignisse zu erinnern, die allesamt nach dem gleichen Muster abgelaufen sind, genügt das Stichwort Mittweida. Einige hundert Menschen sind dort pauschal an einen Pranger gestellt worden, an den ganz andere gehörten. Nicht die Bewohner Mittweidas haben sich schändlich verhalten, sondern diejenigen, die eine Selbstverstümmelung zum Anlaß nahmen, um einen Tag der nationalen Schande auszurufen.

Aus der Geschichte lernen heißt auch: darauf zu achten, daß die Hinterlassenschaft nicht neue Blüten treibt. An dieser Sorgfalt lassen wir es fehlen. Das Dritte Reich hat Metastasen ausgebildet, die anders aussehen und anderes bewirken als der Ursprungsdefekt.

Eine junge Frau hatte sich ein Hakenkreuz in die Haut geschnitten, um von dem Lärm zu profitieren, der regelmäßig dann entsteht, wenn irgend jemand Neonazis ausgemacht zu haben glaubt. Ähnlich wie schon in Halle, Sebnitz oder Mügeln wollte ein halbes Kind auf billige Art zum Märtyrer werden; und weil es sich in der Technik auskannte, ist ihm das auch gelungen. Die Medien haben mitgespielt und das falsche Opfer auch dann noch gefeiert, als der Betrug längst aktenkundig war. Die törichte Entscheidung, eine Simulantin öffentlich zu loben, wurde mit der Begründung verteidigt, dies sei Courage, „wie wir sie uns wünschen“.

In der Sprache unserer politischen Vormünder fallen Wort und Tat immer weiter auseinander. Um zu verstehen, was gemeint ist, muß man ihre politisch korrekte Verlogenheit in die uns allen vertraute Sprache zurückübersetzen. Dann darf man Opfer wieder Opfer und Täter wieder Täter nennen, ohne aus Angst vor irgendeiner Sprachpolizei die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Dann muß man nicht länger von Mut sprechen, wo von Anpasserei oder Mitläufertum zu reden wäre, und kann das Wort Zivilcourage als modisches Alibi für Opportunismus betrachten.

Dann fühlt man sich nicht mehr genötigt, Schandtaten als Heldentaten auszugeben, Schamlosigkeit als Scham zu bezeichnen und die Schuldzuweisung an andere als Beweis für die eigene Unschuld zu nehmen. Und schon gar nicht muß man stillhalten, wenn sich die Sprachverdreher als Vorkämpfer des Anstands und der guten Sitten aufspielen. Anständig mag und soll man sein; als Anstandshüter die Bühne zu besetzen, sich selbst zur moralischen Vorhut aufzuwerfen und das Volk bei alledem auch noch zum Mittun einzuladen, ist aber doch – wenn überhaupt für irgend etwas – nur noch ein Zeichen für das Gegenteil.

Wir können und wollen das traurige Erbe des Dritten Reichs nicht loswerden; wie sonst ließe sich aus der Geschichte etwas lernen? Lernen heißt aber auch: darauf zu achten, daß die fatale Hinterlassenschaft nicht irgendwelche neuen Blüten treibt. An dieser Sorgfalt lassen wir es fehlen. Das Dritte Reich lebt ja nicht einfach weiter; es hat Metastasen ausgebildet, die anders aussehen und anderes bewirken als der Ursprungsdefekt.

Was Alexis de Tocqueville über die Kinder seiner Zeit bemerkt hat – daß es leichter sei, die Väter zu bekämpfen, als ihnen nicht ähnlich zu werden –, läßt sich auch über die deutsche Nachkriegsjugend sagen. Auch sie ist im Laufe des Kampfes, den sie gegen die Älteren, die Tätergeneration geführt hat, den Vätern ähnlicher geworden, als ihr lieb sein kann. Die harte und gebellte Sprache hat einer weichen, heuchlerischen Sprache Platz gemacht, die nach der Brutalität der Väter die Indolenz der Söhne zum Ausdruck bringt. Der legitime Wunsch, aus der Vergangenheit zu lernen, ist umgeschlagen in den billigen Versuch, von der Last der Geschichte dadurch freizukommen, daß man sie anderen auf die Schultern lädt. Davon erzählt die Sprache, die sich auch hier als Spiegel des Verstandes erweist.

 

Dr. Konrad Adam, 67, ist Journalist und Buchautor. Von 1979 bis 2000 war er Feuilletonredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, danach bis 2007 Chefkorrespondent der „Welt“. Auf dem Forum schrieb er zuletzt eine Medienkritik („Wirklich ist, was sich behaupten läßt“, JF 25/09).

Foto: Lautsprecherische Schuldzuweisungen: Muß man nicht angesichts solcher Exzesse Hannah Arendt beistimmen, die in den öffentlich vorgetragenen Schuldbekenntnissen von Leuten, die frei von jeder persönlichen Schuld sind, ein Zeichen von moralischer Verwilderung erkannte?

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