© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/10 26. Februar 2010

Westerwelle versucht den Ausbruch
Wahlkampf: Mit der Debatte über Dekadenz und die Grenzen des Sozialstaats will der FDP-Chef den Absturz seiner Partei abwenden
Paul Rosen

Von Guido Westerwelles „spätrömischer Dekadenz“ bis zu Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ ist es gedanklich nur ein Schritt. Für die Akteure des Berliner Politikbetriebs ist dieser Schritt jedoch zu groß, die Wahrnehmungsfähigkeit ist zu gering, und auch die Person des FDP-Vorsitzenden Westerwelle macht dem Publikum Probleme. Zu durchsichtig erscheint das Manöver, unglaubwürdig überdies der Stichwortgeber.

Die FDP ist mit ihrem Bundestags-Ergebnis von über 14 Prozent nie klargekommen. Die größte liberale Bundestagsfraktion aller Zeiten ist eine amorphe, kaum handlungsfähige Masse. Wenigen in der FDP ist überhaupt bewußt geworden, daß sie viele Leihstimmen von der CDU enttäuschter bürgerlicher Wähler, auch konservativer Wähler erhalten hat. Konsequenzen daraus wurden nicht gezogen – im Gegenteil. Die FDP, deren Wähler das Prinzip Sparsamkeit hochhalten, verlangte die höchste Zahl liberaler Minister und besetzte sogar das Entwicklungshilfeministerium, dessen Auflösung sie zuvor gefordert hatte.

Die Partei ließ zu, daß der Koalitionspartner Union den Ton in der Regierung angibt. Vom ersten Tag an fuhr Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit der FDP und ihrer Forderung nach einer großen Steuerreform Schlitten. Die besonders auf Druck der Liberalen eingeführte Steuersenkung für Hotels ließ das Bild der FDP in der Öffentlichkeit kippen; dem rot-rot-grünen Vorwurf der Klientelpartei hatten Westerwelle und Co nichts mehr entgegenzusetzen.

Im Zuge der wieder anschwellenden Diskussion über Sozialleistungen griff Westerwelle in die Historie-Kiste und schimpfte über „anstrengungslosen Wohlstand“, der zu „spätrömischer Dekadenz“ führe, und empörte sich über den das Land durchwehenden „geistigen Sozialismus“. Neu waren die Aussagen von Westerwelle nicht. Schon 2007 erklärte er in Bild: „Es ist dekadent, der Bevölkerung vorzugaukeln, es gebe Einkommen ohne Anstrengung.“

Natürlich hat Westerwelle recht mit seiner Kritik, wie Zahlen zeigen. Eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern kommt ohne Arbeit auf 1.498 Euro im Monat. Geht sie in einer unteren Lohngruppe, etwa als Verkäuferin arbeiten, käme sie mit Kindergeld auf 1.400 Euro. Vom Amt würde sie zudem 100 Euro Aufstockung erhalten. Wer geht da noch arbeiten? Legion sind die Beispiele, wonach arbeitende Familienväter gerade 100 Euro netto mehr im Monat haben als derjenige, der von den Überweisungen der Bundesagentur für Arbeit lebt.

In diesem Zusammenhang hat sich eine regelrechte Hartz-IV-Industrie entwickelt, deren Bosse wie der Chef der Berliner Treberhilfe einen Maserati als Dienstwagen fahren, um Obdachlosen schneller helfen zu können. Staatliche Zuwendungen an Wohltätigkeitsorganisationen werden offenbar nicht mehr kontrolliert. 

Wer denkt da nicht sofort an das alte Rom, das seine Bürger in seiner Blütezeit mit Brot und Spielen verwöhnte (heute: Hartz IV und Fernsehen) und damit der Bevölkerung jegliche Leistungsbereitschaft austrieb. Die reiche Oberschicht erging sich in Exzessen aller Art. Promiskuität war in diesen Kreisen gang und gäbe, wie pompejische Wandmalereien zeigen. Wenn Gäste heutiger Berliner Clubs auf Loungebetten liegend Lachs-Sashimi verspeisen, werden diese römischen Bilder lebendig: Der Hedonismus hat Hochsaison.  

Den Verlust von Tugenden wie Fleiß, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, aber auch Gehorsam und Pünktlichkeit meinte Montesquieu, als er mit Blick auf Rom von der Dekadenz schrieb. Westerwelle dürfte diese Gedanken im Hinterkopf gehabt haben, aber aktuell galt sein Ausbruchsversuch aus Merkels Einkesselung der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am 9. Mai, wo die FDP so stark werden muß, daß Jürgen Rüttgers (CDU) nicht gegen sie regieren kann. Die nordrhein-westfälische CDU, befreit von allen Grundsätzen und auch Tugenden, biedert sich bereits bei den Grünen an, um an der Macht zu bleiben. Bundesumweltminister Norbert Röttgen kann gar nicht schnell genug Atomkraftwerke abschalten, um nach Hamburger Vorbild jetzt im größten Bundesland die Signale auf Schwarz-Grün zu stellen (siehe auch Seite 2).

Die Hinweise auf „anstrengungslosen Wohlstand” sind nicht neu und haben sich weltweit herumgesprochen, wie die hohen Zahlen von Zuwanderern zeigen. Die FDP hätte bereits zu Helmut Kohls Regierungszeiten Schritte einleiten können, um die inflationär wachsenden Sozialausgaben zu begrenzen. Das tat sie nicht. Egal, wer regiert: Die Einbildung, daß höhere Sozialausgaben mehr Gerechtigkeit bedeuten, war stets Handlungsgrundlage aller Regierungen.

Wenn die Bundesregierung nicht durch ein kurzfristiges Euro- und Schuldenproblem weggespült und durch eine erneute Große Koalition ersetzt wird, droht ihr in der christlich-liberalen Variante durch die NRW-Wahl der Verlust der Mehrheit im Bundesrat und damit der politischen Gestaltungsfähigkeit. Gesetze könnten dann nur mit Geschacher vereinbart werden. Eine bürgerlich geprägte Politik wäre unmöglich, der schwarz-gelbe Traum geplatzt. Ob im Sozialstaat Deutschland überhaupt noch stabile bürgerliche Mehrheiten möglich sind, muß bezweifelt werden. Auch im alten Rom verhallte der Appell des Staatsmannes Cicero, die Leute müßten wieder lernen zu arbeiten, statt auf öffentliche Rechnung zu leben.

Foto: FDP-Chef Guido Westerwelle: Blick auf Rom

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