© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/10 26. Februar 2010

Hitler. Hitler. Hitler.
Westerwelle und die Nazikeule: Godwins Gesetz wirkt sich hierzulande besonders fatal aus
Thorsten Hinz

Nach Ansicht einer sonst nicht erwähnenswerten SPD-Politikerin aus Nordrhein-Westfalen fischt Guido Westerwelle mit seiner Sozialstaatskritik „im braunen Sumpf“. Allzu dicke Exemplare dürften dort zwar nicht zu holen sein, weil sie in stehenden Gewässern schlecht gedeihen, aber um die Stimmigkeit des Bildes und den sachlichen Gehalt des Aussage geht es überhaupt nicht. Die Dame versucht ihre Partei im Landtagswahlkampf aus der Defensive herauszuführen, indem sie das NS-Argument gegen den politischen Gegner einführt.

Ein Verfahren, das häufig erfolgreich ist, das wie ein Damoklesschwert über allen Grundsatzdiskussionen schwebt und nach dem logischen Fehlschluß arbeitet: Die Nazis waren für die Autobahnen! Die FDP ist ebenfalls für die Autobahnen! Also sind die Freien Demokraten Nazis! Schadenfreude darüber, daß nun auch Westerwelle von der Nazikeule gestreift wurde, ist fehl am Platze. Wo der Versuch einer rationalen Problemanalyse und Diskussion als Gedankenverbrechen kriminalisiert wird, da ist auch jede vernünftige Politik am Ende.

Der NS-Vergleich ist ein alter Topos. So war Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Ansicht Walter Ulbrichts der „Hitler von heute“. Die Behauptung, daß dies und jenes an die finstersten Zeiten der deutschen Geschichte erinnere, gehört längst zu den politischen Allgemeinplätzen. Auch außerhalb der Politik erfreut der Nazi-Hitler-Rekurs sich großer Beliebtheit. Martin Buber nannte Martin Heidegger den „Hitler des Denkens“. Tom Cruise wurde vom Sekten-Beauftragten der Evangelischen Kirche Deutschlands als „Goebbels von Scientology“ bezeichnet. Die Fernsehmoderatorin Eva Herman mußte sich als „Eva Braun“ und „Nazitante“ verunglimpfen lassen. Heidi Klum firmierte bei Roger Willemsen als „Heidi Nazionale“, die in ihrer Topmodel-Sendung „wertes von unwertem Leben scheidet“, und auch die altkluge Helene Hegemann meinte jetzt: „Das kommt mir so nazimäßig vor bei Heidi Klum.“ Die Comic-Figur Perry Rhodan gilt Kritikern als „Hitler des Raumzeitalters“, weil die Dauerherrschaft der Unsterblichen undemokratisch sei.

Das Verfahren ist keineswegs auf Deutschland beschränkt. Der amerikanische Rechtsanwalt, Sachbuchautor und Internet-Experte Mike Godwin hat 1990 ein Gesetz daraus abgeleitet, das als „Godwin’s Law“ bekannt ist: „Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit Hitler oder den Nazis dem Wert Eins an.“ Es ist hinzuzufügen: Das gilt nicht nur für Diskussionen im Internet, es war schon lange vor dem Internet-Zeitalter üblich. Claude Levi-Strauss warnte 1953 vor der „Reductio ad Hitlerum“ (Zurückführung auf Hitler): vor der Gewohnheit, eine Ansicht nur deswegen abzulehnen, weil sie von Hitler geteilt wurde. Zudem werden die Abstände zwischen Diskussionsbeginn und NS-Vergleich immer kürzer.

Abtreibungen heißen dann schlicht „Babycaust“. Unverbesserliche Fleischverzehrer befördern nach Ansicht militanter Tierschützer den „Holocaust auf den Tellern“. Der frühere US-Präsident George W. Bush galt als Wiedergänger Hitlers – unvergeßlich die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, die seine Irak-Politik bei „Adolf Nazi“ vorgeformt sah –, doch auch die Lichtgestalt Obama wird mit Hitler identifiziert, weil seine Gesundheitsreform direkt zur Euthanasie führe. Saddam Hussein und Slobodan Milošević wurden mit Hitler identifiziert, und im Augenblick gilt der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad als der „Hitler des 21. Jahrhunderts“.

Wer so redet, will in einer undurchsichtigen Welt einen fixen Punkt finden. In Zeiten, als die christliche Religion noch etwas galt, berief man sich auf die Heiligen und spuckte vor dem Teufel aus. Heute ist Gott tot, geblieben ist Hitler als ein säkularer Gottseibeiuns, an dem sich Gut und Böse scheiden. Alle modernen Diskurstheorien können nicht verschleiern, daß die Debatten doch nur wieder in das manichäische Gut/Böse-Schema zurückfallen. Dabei geht die Vergewisserung der eigenen Position mit dem Versuch der moralischen Delegitimierung des Gegners Hand in Hand. Eine Nebenwirkung besteht darin, daß der Nationalsozialismus verharmlost wird. Gegen Guido Westerwelle läßt sich eine Menge sagen, aber wäre Hitler tatsächlich so ein Leichtmatrose gewesen wie er, hätte die deutsche und europäische Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert bestimmt eine weniger blutige Wendung genommen.

Die Identifizierung des irakischen Diktators Saddam Hussein als neuer Hitler 1999/91 trug dazu bei, daß Deutschland bereitwillig zu großen Teilen den Irak-Krieg bezahlte. Andernfalls hätte es den Verdacht genährt, aus dem Dritten Reich nichts gelernt zu haben. Und falls sich die USA zu einem Militärschlag gegen den Iran entscheiden, wird die Springer-Presse zwecks moralischer Mobilmachung die Hitler-Walze erneut in Betrieb nehmen.

Das von Godwin formulierte Gesetz wirkt sich in und für Deutschland also problematischer aus als für andere Länder. Wenn Bush oder Obama als Inkarnation Hitlers angegriffen werden, dann steht der primär rhetorische und polemische Gehalt außer Frage, was den Angriff abmildert. Ein Deutscher hingegen muß stets den Verdacht beziehungsweise die Unterstellung abwehren, er transportiere tatsächlich das Nazi-Gen. Das zeigte die Diskussion um die polnische Fotomontage, in der die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, in SS-Uniform präsentiert wurde, es gilt aber auch für rein innenpolitische Diskussionen.

Die Diabolisierung Hitlers und der Nationalsozialisten hatte schon im Zweiten Weltkrieg feste Formen angenommen. Sie hat sich über das Ende des Kalten Krieges erhalten und gehört zur moralischen Grundausstattung der amerikanischen Supermacht und der von ihr dominierten Hemisphäre. Hitler und die Nazis sind eine Art Trophäe, die der Sieger sich vom Verlierer angeeignet hat. Ihre magische Wirkung wird immer wieder erprobt und erneuert.

Das heißt nicht, daß Deutschland für die USA das Weltböse repräsentiert, doch trägt es „in der amerikanischen Mythologie seit 1945 unverkennbar deutsche – genauer: nazideutsche – Züge (...). Die Funktion einer solchen Trophäe ist die des symbolischen Sündenbocks und moralischen Blitzableiters. Sie bewahrt die amerikanische Reinheit und Unschuld davor, ernstlich in Frage gestellt zu werden“ (Wolfgang Schivelbusch). Indem Deutschland sich dieses tendenziell antideutsche Paradigma ohne Abstriche zu eigen gemacht hat, setzt es sich selbst unter permanenten Verdacht, woraus sich seine Neigung zu Hysterieausbrüchen erklärt.

Der „Braune Sumpf“-Vorwurf gegen Westerwelle ist ins Leere gelaufen. Das mag dafür sprechen, daß es eine Plausibilitätsgrenze gibt, die nicht unterschritten werden darf. Oder zeigt der absurde Versuch, daß intensiv an der Senkung der Schwelle gearbeitet wird? Aus bitterer Erfahrung neigt man zur pessimistischeren Variante.

Foto: Nazikeule statt Argumente: Die Abstände zwischen Diskussionsbeginn und NS-Vergleich werden immer kürzer

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