© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/10 26. Februar 2010

CD: Mahler Lieder
Aufgewärmt
Jens Knorr

Sollte das Arrangement des berühmt-berüchtigten Adagiettos aus der 5. Symphonie als dramaturgischer Drehpunkt des Albums „Mahler Lieder“, gesungen von der Mezzosopranistin Elisabeth Kulman und begleitet von dem Ensemble Amarcord Wien, gedacht sein? Violine und Violoncello wechseln sich in der Melodiestimme ab, die im Wiederholungsteil des Anfangs das Akkordeon übernimmt; sie dann ungenutzt und jungfräulich zurückgibt und sich wieder seiner hauptsächlichen Arbeit zuwendet, sich mit Kontrabaß und Cello in das Stützkorsett der tiefen Streicher und die gebrochenen Akkorde der Harfe aufzuteilen. Dieses und das Arrangement für das erste der „Lieder eines fahrenden Gesellen“ sind von Sebastian Gürtler, alle anderen von Gerhard Muthspiel, der sie im Beiheft als „farbreich“ und die Kleinbesetzung des Ensembles Amarcord Wien als von „schlanker Eleganz“ annonciert (Material Records MRE 027-2).

Wer wollte sich da nicht des Hörschocks erinnern, den vor Jahren die Mahler-Arrangements und -Adaptionen des New Yorker Musikers und Komponisten Uri Caine auslösten – sowohl „Urlicht“, die legendäre erste Produktion des neugegründeten Labels Winter & Winter von 1996, als auch der Mitschnitt einer öffentlichen Aufführung auf dem Gustav-Mahler-Festival Toblach zwei Jahre später! Uri Caine konnte die Musik Gustav Mahlers in das Heute fortschreiben, weil er zu ihren Wurzeln zurückhörte, in das jüdische Städtl der Kantoren- und Klarinettenweisen, in die reine Natur als Gegenbild zu den unreinen Riesenstädten der Jahrhundertwende mit ihren sich überlagernden hohen und niederen Musik- und Klangsphären – und weil er die Tragödie des assimilierten Juden und Konvertiten mit einer Zeit ins Verhältnis setzte, die sich eben bildete und für Juden ganz anderes bereithalten sollte als Assimilation und Konversion.

Doch Ursachenforschung ist die Sache unserer Arrangeure nicht. Vor den originalen Partituren – deren durchhörbare Aufführung einmal unterstellt – wandeln die Reduktionen von Gürtler und Muthspiel auf ausgetretenen Pfaden, aber wiederum auch den gesanglichen Möglichkeiten Elisabeth Kulmans angepaßt. Kulmans Sopranstimme schwebt körperlos glockig und unbetroffen über Noten und musikalische Ausdrucksanweisungen hinweg. Unbestimmt bleiben die musikalischen Ausdruckscharaktere, unbestimmt bleibt die stimmliche Physiognomie. Mahlerschen Geist läßt Kulman allenfalls in der Groteske des Wunderhorn-Lieds „Lob des hohen Verstandes“ anklingen oder im letzten der Kindertotenlieder, auch wenn sich da manch larmoyanter, jauliger Ton in die Gesangslinie mogelt.

Um das Adagietto versammelt alle fünf Rückert-Lieder, fünf Wunderhornlieder, zwei der Gesellen-Lieder und eben das letzte der Kindertotenlieder, das sind vierzehn Mahleriana in gemütvoller, lauwarmer und – insbesondere, was den Einsatz des Akkordeons betrifft – delikater Tönung. Das ist ein mit der Oberwelt des Wiener Kaffeehauses versöhnter Mahler. Aber wo, wenn nicht dort, wäre die Dauer des Adagiettos beim Ensemble Amarcord ausführlich zu diskutieren, und von wem, wenn nicht von jenen Verschwörungstheoretikern, von denen die Wiener Kaffeehäuser zu allen Zeiten voll waren, sind und sein werden. Denn 9 Minuten, 11 Sekunden – das kann kein Zufall sein.

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