© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/10 26. Februar 2010

Unheilig: Lieder von Liebe und Familie sowie ein kämpferischer Optimismus
Die große Freiheit des Grafen
Nils Wegner

Bei neueren Bands auf dem Weg an die Spitze sind besondere Fanaktionen nicht unüblich. Wann aber hat man schon einmal davon gehört, daß jemand für eine persönliche Auffassung von Freiheit Konzertkarten und ein persönliches Treffen mit dem Künstler gewonnen hätte? Das aus dem weiten Gothic-Bereich stammende Projekt Unheilig wagt derzeit – passend zum Titel des neuen Albums – das Experiment mit der „Großen Freiheit“.

Im Jahr 2000 ließ die Gruppe um den mysteriösen Frontmann „Der Graf“, der sich mit Glatze, schwarzem Nagellack und weißen Kontaktlinsen als Kunstfigur irgendwo zwischen Nosferatu und dandyhaftem Philosophen in feinem Zwirn inszeniert, erstmals von sich hören. Die Single „Sage Ja!“, gefolgt vom Debütalbum „Phosphor“, bescherte dem laut Selbstdefinition „deutschsprachigen Electrorock ohne Grenzen“ der Band sogleich eine größere feste Fanbasis. Deren Mitglieder lassen kaum ein Konzert oder eine Autogrammstunde aus und stechen durch ihre frenetische Unterstützung aus dem durchschnittlichen Goth-Publikum heraus. So war beispielsweise das alljährlich stattfindende Hannoveraner „Christmas Ball Festival“ im Dezember 2007 klar von Gästen mit Unheilig-Hemden dominiert, obwohl neben dem „Grafen“ noch drei weitere hochkarätige Gruppen aus der „schwarzen Szene“ aufspielten.

Die Fananbindung ist beim „Grafen“ und seinen Mitstreitern generell stark ausgeprägt. So wurde 2004 durch eine Hörerabstimmung entschieden, das Lied „Freiheit“ vom dritten Album „Zelluloid“ als nächste Single auszukoppeln. Das dazugehörige Video ging bei VIVA+ sofort auf hohe Rotation und machte so auch ein breites Publikum auf die Düster-Rock-Formation aufmerksam.

Nun ist wieder „Freiheit“, diesmal die „große“, das Leitmotiv einer musikalischen CD-Veröffentlichung des „Grafen“, und erneut soll die Fangemeinde eingebunden werden. Auf der Präsenz der Band im sozialen Netzwerk MySpace wird man eingeladen, seinen persönlichen Freiheitsbegriff zu hinterlassen. Zu gewinnen gibt es zwei Karten für das schon  ausverkaufte Konzert am 9. Mai in der Berliner Columbiahalle sowie ein anschließendes persönliches Treffen mit dem „Grafen“.

Musikalisch rangieren Unheilig in einer vielfältigen Grauzone irgendwo zwischen weichem Synthesizer und Neuer Deutscher Härte. Harte Gitarrenriffs lassen bisweilen Assoziationen zu den Giganten Rammstein und anderen NDH-Formationen wie Riefenstahl entstehen. Gleichzeitig aber werden immer wieder ungewöhnlich ruhige Töne angestimmt, zu denen der „Graf“ mit tiefer, ruhiger Stimme seine – laut Eigenaussage stets persönlich geprägten – Texte vorträgt.

Ein Blick auf die behandelten Themen läßt den Kenner der „schwarzen Szene“ verblüfft zurück, geht es bei Unheilig doch zu einem großen Teil um Inhalte, die so gar nicht zur allfälligen Melancholie und dem Weltschmerz der Subkultur passen wollen. Statt dessen werden unerwartet konservative Werte wie Liebe, Kinder, Familie und ein kämpferischer Optimismus ins Zentrum gerückt.

Dies sind die Leitgestirne im Leben des „Grafen“, der nicht zuletzt deswegen ganz gezielt ein Mysterium bleiben möchte, um seine Angehörigen vor dem Zugriff von Medien und Öffentlichkeit zu schützen. Dem Gothic-Magazin sagte er im Interview gar, wenn er seine Familie nicht mehr aus dem Rummel um seine eigene Person heraushalten könne, sei für ihn der Moment gekommen, das Musizieren aufzugeben. Passend hierzu finden sich bei MySpace infolge der Ticket-Aktion inzwischen diverse Aussagen von Fans, die ihre eigenen Familien als Horte tatsächlicher Freiheit ansehen und sich beim „Grafen“ als einem Seelenverwandten bedanken.

Insgesamt bilden Unheilig eine bemerkenswerte Formation innerhalb der eher stagnierenden Gothic-Szene. Angesichts der seit zehn Jahren anhaltenden Erfolgsgeschichte der Gruppe, deren aktuelle Auskopplung „Geboren, um zu leben“ in der vorvergangenen Woche auf Anhieb den Einstieg auf Platz drei der deutschen Single-Charts schaffte, erscheint es lohnenswert, sie wohlwollend im Auge zu behalten. Auch wenn der Stil gewöhnungsbedürftig sein mag – hier werden Inhalte transportiert, die aus der deutschen Musik beinahe verschwunden sind.

Foto: Die neue Unheilig-CD: „Der Graf“ (rechts) reitet die Erfolgwelle

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