© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

Chopin und Chauvinismus
Bevölkerungspolitik: Posener West-Institut fordert Minderheitenstatus für Polen
Christian Rudolf

Das geschichtsbewußte Polen feiert seine Jahrestage, und während in der vergangenen Woche im Erdgeschoß des eleganten „Hauses des Auslandspolentums“ in Warschau zu Ehren Fryderyk Chopins ein Konzert gegeben wurde, richtete im Spiegelsaal das Posener West-Institut (JF 37/08) eine Experten-Konferenz zu Geschichte und Gegenwart der „Polnischen nationalen Minderheit in Deutschland“ aus. Anlaß war der 70. Jahrestag der „Verordnung über die Organisationen der polnischen Volksgruppe im Deutschen Reich vom 27. Februar 1940“. Die Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung unter Vorsitz von Hermann Göring bewirkte die Auflösung aller polnischen Vereinigungen im Reich und die entschädigungslose Einziehung ihres Vermögens.

Auf der Konferenz mit gut achtzig Teilnehmern trugen prominente Wissenschaftler – sämtlich nationalkonservativer Provenienz – ihre Argumente vor, warum es im heutigen Deutschland noch eine polnische Minderheit gebe, die ihre Rechte zurückerhalten solle.

Warschau will, daß die diesseits von Oder und Neiße lebenden Polen deutscher Staatsangehörigkeit als nationale Minderheit anerkannt werden. Berlin wies das Ansinnen jüngst zurück, weil den Polnischstämmigen das Merkmal einer nationalen Minderheit abgeht: deren Ansässigkeit über Jahrhunderte.

Andrzej Sakson, Direktor des West-Instituts, das die Einverleibung Ostdeutschlands in den polnischen Staat nach 1945 publizistisch-wissenschaftlich flankierte, zählte „vier Millionen Polen“, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges im Deutschen Reich lebten.

Vor der Kulisse eines in die Wand eingearbeiteten, mannshohen polnischen Adlers präsentierte Sakson polnische Bevölkerungsschwerpunkte der Zwischenkriegszeit, ausgearbeitet nach Ortschaften, Stadtteilen, Straßenzügen und sogar einzelnen Straßen: „Wilhelmsburg bei Hamburg, Stadtteil Reiherstieg: 38,2 Prozent Polen, in acht Straßen: mehr als 50 Prozent polnische Bevölkerung, darunter eine Straße mit mehr als 80 Prozent Polen.“ Mit kleinteiligen, landschaftsbezogenen Ausarbeitungen kennt sich das West-Institut aus: Vorgänger-Arbeitsgruppen der „Westforscher“ legten zwischen den Weltkriegen für ostdeutsche Landstriche, Städtchen, Flüsse und Weiher polnische Namen bereit.

Nach dem Ersten Weltkrieg lebten Polen an drei Schwerpunkten im Reich: im Ruhrgebiet und Berlin, autochton in Ermland und Masuren, Oberschlesien und Oppelner Land sowie in den Grenzregionen Pommerns. Sakson bestätigte damit, ohne es zu wollen, die deutsche Argumentation: Die im Westen siedelnden Polen sind seit dem neunzehnten Jahrhundert eingewandert, und alle anderen Siedlungsgebiete gehören nicht mehr zu Deutschland.

„Die Minderheit lebte in einem Staatsgebiet, das heute so nicht mehr existiert“ – die per Videofilm eingespielte abschlägige Stellungnahme des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen, Christoph Bergner (CDU), erregte im Saal Murren und Mißfallen: Man solle dem Rechnung tragen, daß es heute ein anderes Staatsgebiet mit anderer Bevölkerungszusammensetzung gebe, so Bergner weiter.

Die ebenfalls anwesende Senatsabgeordnete Dorota Arciszewska-Mielewczyk, in Deutschland bekannt als Vorsitzende der Polnischen Treuhand, schüttelte bei diesen Worten heftig den Kopf. In einer Stellungnahme gab sie sich siegesgewiß: „Ich glaube, daß uns der Status zurückgegeben wird.“ Doch es gebe noch viel zu tun. „Erst wenn wir der deutschen Minderheit in Polen die Privilegien nehmen, wird sich etwas bewegen.“

„Polen erfüllt seine Verpflichtungen gegenüber der deutschen Minderheit über der Norm“, behauptete der Berliner Rechtsanwalt Stefan Hambura. Die Reichsverordnung von 1940 sei „von Anfang an ungültig“. Deswegen existiere die polnische Minderheit ohne Unterbrechung bis heute weiter. Der Spätaussiedler aus Gleiwitz hatte im vergangenen Jahr einen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel übergeben mit dem Appell, die Verordnung formell zu annullieren.

„Der deutschen Minderheit die Privilegien nehmen“

Unter der vom Erdgeschoß hinauftönenden Klaviermusik Chopins forderte die Konferenz Polens Regierung auf, einen Anhang zum deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag von 1991 auszuhandeln, der die Begrifflichkeit „polnische nationale Minderheit in der Bundesrepublik Deutschland“ festschreibe.

In der anschließenden Aussprache erhob sich einer der älteren Zuhörer: „Wie lange noch wollen wir mit den Deutschen auf Knien reden?“ Die heute noch in Polen lebende deutsche Minderheit verberge „verbrecherisch“ ihre Volkszugehörigkeit, denn: „Schließlich haben die Großmächte in Potsdam beschlossen, daß die Deutschen ausgesiedelt werden!“ Demnach: „Die Deutschen sollten vollständig rausgeschmissen werden!“ Niemand, auch die Veranstalter nicht, widersprach.

Nach den Verhandlungen von Versailles 1919 seufzte der ehemalige italienische Außenminister Graf Sforza, wenn es nach der polnischen Delegation gegangen wäre, so wäre „halb Europa ehemals polnisch gewesen und hätte wieder polnisch werden müssen“. Polnische Forderungen nach Einverleibung weiter Teile Litauens samt Wilnas, bereits während des Ersten Weltkriegs erhoben, kommentierten die Leipziger Neuesten Nachrichten damals treffend als „Überheblichkeit, die an Länderkleptomanie leidet“.

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