© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

Im Würgegriff der Datenkrake
Der gläserne Mensch: An allen Ecken beschnüffelt, gerastert und protokolliert / Privatsphäre auf verlorenem Posten
Michael Manns

Eine fiktive Szene in einem Berliner Café: Eine Unbekannte kommt herein und setzt sich an einen Tisch mir gegenüber. Ich hole unauffällig mein Foto-Handy heraus und mache ein Bild. Dann aktiviere ich eine Software und jage das Bild der Unbekannten durchs Internet. Es erfolgt ein Abgleich mit allen Fotos, die dort herumschwirren. Ich werde fündig. Ich finde ein Bild von der Unbekannten mit ihrem Namen in einem sozialen Netzwerk. Sie ist Angestellte in einem Verlag. Sie steht im Telefonbuch, wie meine Internet-Recherche ergibt, und wohnt in einer Gemeinde in der Nähe von Berlin.

Digitale Leichtgläubigkeit als Lizenz zum Gelddrucken

Über Google Earth schaue ich mir die Gegend an. Ich finde ihr Haus, zoome heran, kann ihren PKW erkennen und das Nummernschild (Tüv ist abgelaufen, wie weiteres Heranzoomen zeigt). Im Garten sehe ich einen Hund. Ich zoome auf das Tier: Seine Steuermarke ist ungültig.

Ich surfe dann weiter zu Elena, dem zentralen Computer für Arbeitnehmer. Ich schaue mir ihre Fehlzeiten an (ziemlich heftig) und eine Abmahnung (wegen Alkohol am Arbeitsplatz). Die nächste Station ist ihre digitale Gesundheitskarte: Hier sehe ich ihre Rezepte. Sie nimmt Psychopharmaka, hat Probleme mit der Leber. Schufa und Creditreform sind ein Kinderspiel: Sie hat mehrere Kredite, einer wurde nicht ordnungsgemäß bedient. Bei Amazon werde ich auch fündig: Sie interessiert sich für Hanfanbau. Wie sieht es bei ihr im Kühlschrank aus? Dort liegen eine Flasche Weißwein und zwei Becher Joghurt – das verraten mir die Funk-Chips (RFID), die auf einem zentralen Server liegen.

Ein Horror-Szenario, das an Orwell erinnert – und die Details sind keineswegs erschöpfend. Das Bedrückende daran ist: Jeder einzelne Aspekt ist schon Realität, wird bald Realität oder ist technisch möglich. Was noch düstere Zukunftsmusik ist – das ist die Zusammenschaltung all dieser Daten in einer Hand. Experten nennen das die Verkettung der digitalen Identität.

Vorbei die Zeiten wie bei der Volkszählung Anfang der 1980er Jahre, als noch Tausende auf die Straßen gingen und gegen die Schnüffelei protestierten. Heute verharrt die Gesellschaft offenbar in unkritischer Resignation. Die Privatsphäre im Netz ist verlorengegangen und die Selbstentblößung nicht zu bremsen. Die alte christliche Tugend der Scham ist vergessen oder ein alter Hut. Und die Warnungen der Datenschützer seit zig Jahren, vorsichtig und sparsam mit privaten Daten umzugehen, scheinen ungehört zu verhallen.

Doch das ist noch nicht die ganze Dramatik, wenn man lediglich den Angriff der Datenkraken auf unser Privatleben im Fokus hat. Mittlerweile gibt es hochkriminelle Strukturen, die systematisch auf der Jagd nach TAN- und Kontennummern sind. Dazu die Wirtschaftsspionage und – als Höhepunkt – der Datenkrieg zwischen Nationen (etwa China und Rußland). Hillary Clinton hat im Februar die Vorstands-chefs von führenden IT-Konzernen eingeladen, um über ein gemeinsames Vorgehen zu beraten. Der technische US-Geheimdienst NSA (er analysiert schon weltweit über Echolon die Telefongespräche) baut eine neue Organisation für Kriege im Internet aus.

Die immer fetter werdenden Datenkraken sind nicht zu stoppen. Der 1984 verstorbene französische Philosoph Michel Foucault spricht vom „Panoptismus“ in der Gesellschaft, der zu einer raffinierten Form der Disziplinierung führt, wobei zum Schluß sogar die Überwacher selber überwacht werden.

Machen Sie doch einmal folgenden Versuch – Sie werden erstaunt sein und der Test wird Ihnen zu denken geben. Rufen Sie die Seite www.anonym-surfen.com auf. Dort werden Ihnen eine ganze Reihe von Angaben über Ihren PC präsentiert. Alles Angaben, die im Netz registriert sind: Ihr Betriebssystem, die Auflösung Ihres Bildschirms; der ungefähre Ort, wo der PC steht, und die Art des Browsers; und – ganz wichtig – Ihre IP-Nummer. Diese Zahlenfolge ist Ihre Adresse, mit der Sie im Netz unterwegs sind und mit der Sie eindeutig zu identifizieren sind. Registriert werden auch alle Seiten, die Sie besucht haben. Nichts ist öffentlicher als Surfen im Internet. Und was Ihre E-Mails betrifft – sie haben den Sicherheitsstandard von Postkarten, die jeder mitlesen kann.

Der Bremer Landesbeauftragte für den Datenschutz warnt eindringlich: „Heute kann fast jeder Webseiten erstellen und anbieten, kann Daten über andere sammeln. Das geschieht oft, um Geld zu verdienen, um Informationen abzugreifen und zu verkaufen. Ihre Unwissenheit oder auch Ihre Leichtgläubigkeit sind da wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Denn Ihre Haltung ‘Ich habe nichts zu verbergen’ öffnet nicht nur Pfade, sondern breiteste ‘Autobahnen’ zu Ihren Daten. Weit über Internet, E-Mail oder Telefon hinaus ist Datenhandel längst zu einem lukrativen und vor allem boomenden Wirtschaftsbaum geworden, dessen Äste und Zweige in nahezu alle Ihre Lebensbereiche hineinwachsen.“

Ein Urteil des Amtsgerichts Berlin-Mitte aus dem Jahre 2007 zeigt, mit welcher Unverfrorenheit selbst Bundesbehörden vorgehen. Blauäugig könnte man doch vermuten, daß ehrbare Staatsbürger sich unbehelligt auf deren Seiten informieren könnten. Nein: Wie das Amtsgericht feststellte, wurden „der Name der abgerufenen Datei bzw. Seite, Datum und Uhrzeit des Abrufs, übertragene Datenmenge, Meldung, ob der Abruf erfolgreich war, sowie die IP-Adresse aufbewahrt“, berichtete seinerzeit die Zeit. In diesem konkreten Fall ging es um das illegale Datenfischen beim Bundesjustizministerium. Doch dann stellte sich heraus, daß alle Bundesbehörden der Datensammelwut erliegen. Die Seiten des BKA sollte man am besten gleich meiden. Schaut man zu oft da hinein, muß man mit Ermittlungen rechnen. Wer zu oft klickt, macht sich verdächtig.

Ganz hilflos ist der einzelne Nutzer jedoch nicht

Immerhin: Es gibt auch schwache Hoffnungsschimmer. Drei Beispiele: Das Europa-Parlament hat beim Swift-Abkommen die Notbremse gezogen. Zu gern hätte die CIA die Auslandskontenbewegungen von mehr als 8.000 Geldinstituten in mehr als 200 Ländern mitgelesen.

Das neue Projekt von Google („Street View“) stößt bei der Regierung auf wenig Gegenliebe. Justiz- und Verbraucherschutzministerium haben große Bedenken dagegen, daß Deutschland das zwanzigste Land auf der Welt werden soll, wo man jedes Eckchen virtuell besichtigen kann.

Was kann der einzelne Nutzer nun dagegen tun? Gegen den Leviathan und gegen die Macht der Geheimdienste sowie gegen mafiose Hackerstrukturen hat er natürlich wenig Chancen. Doch ganz hilflos ist man auch wieder nicht. Die IP-Adresse ist die Hausnummer eines Computer, die man beim Surfen überall hinterläßt. Man kann sie aber verschlüsseln lassen. Es gibt Bezahldienste, die das erledigen, oder auch kostenlose Möglichkeiten (JAP, TOR, vtunnel.com). Deaktivieren Sie in Ihrem Browser die Cookies oder löschen Sie diese regelmäßig. Dort ist der Verlauf Ihres Internet-Surfens dokumentiert. E-Mails lassen sich anonymisieren (es gibt kostenpflichtige, aber auch kostenlose Varianten). Die Datenkrake Google sollte man meiden (Alternative: ixquick.com).

Stichwort Handy: Schon Wolfgang Schäuble gab als Innenminister den Rat, das Gerät einfach auch mal auszuschalten. Dann ist eine Handy-Ortung unmöglich. Wegen der mangelnden Sicherheit ist davon abzuraten, über das Mobilgerät gar zu surfen.

Wie sehr unsere Privatsphäre im Netz verlorengeht, zeigt ein Beispiel aus der Welt des Massenmediums Twitter, das von Millionen mittlerweile benutzt wird. Wer dort seinen Freunden mitteilt, daß er nun das Haus verlassen hat, läuft Gefahr, daß der Wohnungseinbruch auf dem Fuße folgt. Denn ein spezieller Dienst hat diese Information (die Wortgruppe) gesammelt und auf einer Netzseite veröffentlicht: eine Einladung und ein Service für Diebe.

Thema EC-Karte: Denken Sie daran – Ihr Girokonto ist für die Bank ein offenes Haushaltsbuch. Schnell und elegant läßt sich so Ihr Einkaufsprofil feststellen. Vermeiden Sie Mini-Einkäufe mit der Karte. Heben Sie wie in „alten Zeiten“ Geld ab, bezahlen Sie bar. Dasselbe gilt für Amazon. Ihre Bücher können Sie nach dem klassischen Schema „Ware gegen Geld“ im Buchladen kaufen. Dann wird nichts registriert, protokolliert, archiviert.

Und gegen das ewige Abfragen (bei Bestellungen) wehre ich mich nach Art eines Anarchisten: Ich gebe bei Alter und Telefonnummern falsche Zahlen an, um die Profilherstellung zu erschweren. Von beruhigender Sicherheit sind wir Lichtjahre entfernt.

Sogar der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, warnte jüngst vor einem „Super-Gau des Datenschutzes“. Seine Sorge gelte weniger staatlichen Eingriffen in Grundrechte als den von privaten Firmen „irgendwo auf der Welt gespeicherten Informationen“, sagte er. Daraus könne sehr leicht ein Persönlichkeitsprofil einzelner Bürger erstellt werden. Es bestehe die Gefahr, „daß wir uns zu einer privaten Überwachungsgesellschaft internationalen Ausmaßes verwandeln“.

Der US-Geheimdienstexperte James Bamford macht uns wenig Hoffnung auf ausreichende Sicherheit im Internet. Die bekomme man höchstens dann, wenn man bei einem der führenden Geheimdienste der Welt arbeite. Dann bestehe eine gewisse Chance, daß private Daten geheimgehalten werden können. Es wird also weiter geschnüffelt, gerastert und protokolliert. Der Mensch des 21. Jahrhunderts wird der gläserne Mensch sein.

 

Stichwort: Kundenbindungsprogramme

Kundenkarten bilden seit Jahren ein wichtiges Standbein der Kundenbindungsprogrammpolitik der Unternehmen – Tendenz steigend. Der Kunde kauft ein, sammelt Punkte und erhält Prämien: eine gute Sache, wenn da nicht das Problem mit den Daten wäre. Denn der Kunde gibt seine Anonymität als Käufer auf. Die gespeicherten Daten ermöglichen tiefe Einblicke in die Konsum- und Kaufgewohnheiten des einzelnen. Datenschützer warnen: Eine große Gefahr bestehe auch darin, daß sensible Daten für Zwecke der Profilbildung genutzt, ja mißbraucht werden können, etwa durch Verkauf an andere Firmen.

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