© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

Körbe voll Essen und Geld
Vorwärts in die Vergangenheit: Was die Bundesrepublik mit dem Alten Rom gemein hat
Stefan Scheil

Heutzutage kommt es eher selten vor, daß Politiker zu historischen Analogien außerhalb der bekannten jüngeren deutschen Geschichte greifen. Der deutsche Außenminister machte jüngst eine schlagzeilenträchtige Ausnahme. Deutschlands Sozialstaat sei auf dem Weg zur spätrömischen Dekadenz, so Guido Westerwelle. „Es scheint in Deutschland nur noch Bezieher von Steuergeld zu geben, aber niemanden, der das alles erarbeitet. Empfänger sind in aller Munde, doch die, die alles bezahlen, finden kaum Beachtung. (…) Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein“, schrieb der FDP-Vorsitzende Mitte Februar in einem Zeitungsbeitrag. An einem solchen Denken könne Deutschland scheitern.

Gemeint hat Westerwelle damit die Höhe der Sozialleistungen, die es dem Empfänger staatlicher Transfergelder heutzutage im Prinzip möglich machen, gepflegt und nicht ohne Luxus unter Bedingungen in den Tag zu leben, die auf dem überwiegenden Rest des Planeten als paradiesisch gelten würden. Wer etwas anderes sagt, sagt nicht die Wahrheit.

Wer es allerdings so wie Westerwelle sagt, sagt auch nicht die ganze Wahrheit. Das liegt zum einen daran, daß die Transfergelder unter den jetzigen Bedingungen nur den genußvoll treffen, der mit der arbeitenden Existenz tatsächlich abgeschlossen hat, sein Vermögen längst durchgebracht hat (oder durchbringen mußte) und dem es moralisch gesehen nichts ausmacht, dem Staat auf der Tasche zu liegen. Dann läßt sich in Deutschland heute tatsächlich wie im Alten Rom unter der Dauerberieselung von Brot und Spielen eine anspruchsvolle Existenz führen, in der Gewißheit des steten finanziellen Tropfens.

Wer dagegen arbeiten will, eigentlich gespart hat und unverschuldet in diese Lage kam, den treffen die gegenwärtigen Regelungen hart. Leistung lohnt sich nicht: Das ist die Grundbotschaft des gegenwärtigen Sozialsystems und daran plant auch die FDP keine Änderung.

Womit wir wieder bei der Dekadenz wären. Der Dekadenzbegriff geht von einer ganzen Reihe an Grundannahmen aus, die aus Sicht des Historikers etwas fragwürdig sind. Oswald Spengler, der große Theoretiker des notwendigen Auf und Ab im Leben der Kulturen, nannte seine Konzeption deshalb bescheiden eine Morphologie, eine Formenlehre im biologischen Sinn. Eine Kultur kann und wird demnach notwendig verblühen wie eine Blume, sie kann aber auch wie die Blume vor ihrer Zeit beiläufig von Eseln zertrampelt werden. Der Zufall blieb für Spengler ein Element der Geschichte. Wenn Dekadenz aber etwas zutreffend bezeichnet, dann nicht nur eine Ära des leistungslosen Genusses, sondern vor allem eine Ära, in der alte Begriffe und Werte zwar noch gebraucht, aber nachweislich nicht mehr geachtet werden.

Dazu gehören in der Bundesrepublik gegenwärtig solche Begriffe wie Parlamentarismus, die erkennbar entwertet sind, wenn der Bundestag praktisch ohne Debatte ein Gesetz wie den Lissabon-Vertrag durchwinkt, das seine eigenen Kompetenzen in verfassungswidriger Weise beschneidet. Dazu gehören Parteien wie die FDP, die lebhaft die Abschaffung eines Ministeriums fordert, um es bei erster Gelegenheit selbst zu übernehmen; die Steuersenkungen ankündigt, von denen jeder weiß, daß sie nicht bezahlt werden können; oder die lautstark ein einfaches Steuersystem propagiert, um dann bei der Mehrwertsteuer eine Unterscheidung zwischen Hauseseln und Wildeseln einzuführen. Das Kernproblem mit dieser Form der Dekadenz besteht im offensichtlichen Verfall des Handlungswillens in Teilen der Bevölkerung und der Handlungsfähigkeit gesellschaftlicher Eliten – oder einfach gesagt: Es funktioniert so eben nicht.

Auch eine andere Meldung dieser Tage scheint mit Blick auf das Alte Rom von Bedeutung. Die CDU in Nordrhein-Westfalen soll Gesprächstermine mit CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers gegen Geldzahlung vergeben haben. Rüttgers hätte mit einem solchen Vorgehen einen echten Schritt in Richtung des altrömischen Klientelwesens getan. In Rom war es üblich, die eigene Klientel täglich morgens im eigenen Hause zu empfangen, zur sogenannten salutatio. Dort wurden dann der Tag und die anliegenden Dinge besprochen, weniger im Rahmen eines Befehlsempfangs denn im Modus eines gegenseitigen Gebens und Nehmens.

Althistoriker schreiben dem Ganzen übrigens eher eine nivellierende Wirkung zu. Solange das Geben und Nehmen wechselseitig war, funktionierte die Republik. Als die Gaben maßlos und einseitig wurden, etablierte sich die de-facto-Monarchie des römischen Alltags, die gelegentlich in Tyrannei abgleiten konnte, zumal auch noch der kleine Mann ins Klientelsystem mit einbezogen wurde, der außer seiner zustimmenden Anwesenheit nichts zu geben hatte. Spätrömische Autoren spotteten gerne über die Klienten aus dem einfachen Volk, die morgens die Straßen verstopften und vom Empfang Körbe voll Essen und Geld nach Hause trugen.

Das System konnte dazu führen, daß ein Philosoph wie Seneca im Windschatten seiner Beziehung zu Kaiser Nero einen märchenhaften Reichtum entwickeln konnte. Natürlich predigte er weiterhin gegen die Laster der Reichen, unterhielt aber eine Klienteltafel, die zu besten Zeiten über fünfhundert Tische verfügt haben soll. Als Rechtfertigung für den damit verbundenen Umsatz entwickelte Seneca eine Theorie der zweckfreien Beziehung unter Freunden, die sich gegenseitig materiell Gutes tun, ohne damit einen bestimmten Zweck zu verfolgen.

Es wäre unzutreffend, die Nebeneinkünfte von Westerwelle als Vortragsredner oder von Rüttgers’ Partei als Ausdruck von direkten Abhängigkeiten zu deuten. Tatsächlich geht es beiden um lebenslange Mitgliedschaft in einem Entscheidernetzwerk, innerhalb dessen die Funktionen nach alt­römischer Weise dann und wann wechseln. Ob dies für die Republik schädlich oder nützlich ist und wo die Dekadenz anfängt, ist wiederum eine eigene Frage.

Man wird die Dekadenz wohl spätestens dort konstatieren, wo das Geben und Nehmen ganz oben außer Kontrolle gerät, die Entscheidungen lähmt und alles Gerede über Werte folgenlos bleibt. Wenn zudem das demotivierte gemeine Volk unter dem Eindruck solcher Erfahrungen die eigene Leistung und Bildung einstellt, nicht mehr seine verfassungsmäßigen Rechte wahrnimmt und in erster Linie darauf achtet, auch etwas im Körbchen nach Hause zu tragen, dann ist eine weitere Bedingung erfüllt. In mancher Hinsicht bewegt sich die Bundesrepublik daher auf das Alte Rom zu, das ist ein Teil der Wahrheit.

Thomas Couture, Les Romains de la décadence (1847): Eine Kultur kann verblühen wie eine Blume oder von Eseln zertrampelt werden

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