© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

Sozialstaat und Staatsethik
Die Pflicht zum Staat
von Thorsten Hinz

Nichts scheint den Politikern, den Medien und selbst vielen Wählern in Deutschland ferner zu liegen als der Gedanke, daß die erste Aufgabe deutscher Politik darin bestehen muß, den Selbsterhalt des deutschen Staates als Heimstatt der Deutschen zu sichern. Das heißt, Deutschland nicht bloß als Standort oder als Verwaltungseinheit einer ominösen Weltgemeinschaft zu betrachten, sondern als das angestammte Territorium eines Volkes, das sich in den Grenzen des eigenen Landes für seine Lebensweise, Alltagsgewohnheiten, kulturellen Traditionen und Gebräuche weder erklären noch rechtfertigen oder entschuldigen muß – wo es vielmehr von Zugewanderten die Akzeptanz des Vorgefundenen verlangen kann, wenn sie hierher zuziehen.

Gemeint ist damit keine kulturelle, geistige, mentale Erstarrung oder Abschottung, auch keine Aufhebung ethischer Prinzipien zugunsten eines auftrumpfenden Nationalismus, sondern das Bewußtsein und der Anspruch eines unaufhebbaren Eigenrechts, das keiner Begründung bedarf und das andere Völker in ihren Grenzen ebenso selbstverständlich beanspruchen dürfen. Dazu gehört genauso, falsche Ansprüche und Forderungen von außen zurückzuweisen.

Es ist paradox: Die „Aufgeklärten“, die den deutschen Nationalstaat als unzeitgemäßes Relikt betrachten, verdrängen konsequent, daß letzten Endes er es ist, der ihnen durch verbürgte Rechte und Privilegien ihre Exaltiertheit überhaupt erst ermöglicht. Selbst eine Lieblingsformel der Staatsverneiner und Postnationalisten: „Global denken, lokal handeln“, verweist auf die Notwendigkeit des Nationalstaates. Denn solange kein besseres Ordnungsprinzip gefunden ist, läßt sich das globale Chaos durch ihn am wirksamsten steuern. Inter- oder supranationale Organisationen sind schließlich nur effektiv, wenn sie auf die Ressourcen stabiler Nationalstaaten zurückgreifen können. Das zeigt sich auch jetzt, da die Blicke der Euro­-Bankrotteure in Griechenland und Brüssel sich einmütig auf die deutsche Staatskasse richten.

In den politischen Diskussionen in Deutschland kommt das Problem des Selbsterhalts dennoch nicht vor. Ob es um Kriegseinsätze, den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, um EU-Beitritte, Zuwanderung, Kriminalität, Sozialmißbrauch, Währungsunion und nun um die Euro-Krise geht: Den Ausgangspunkt und das Kriterium bilden die Menschenrechte, die Bündnisverpflichtungen, die UN-Charta, die „europäischen Werte“ beziehungsweise die EU-Direktiven, die Interessen „der Menschen“ oder, noch besser, „der Betroffenen“. Nie werden Deutschland als der Staat der Deutschen und sein Selbsterhalt offensiv thematisiert. Stets geht es nur um die Leistungen, die der Staat im Namen höherer Prinzipien zu erbringen habe.

In dieser Selbstverleugnung wirkt der Schock über die Folgen nationaler Selbstüberhebung während der NS-Zeit nach. Einen zweiten Grund nannte Arnulf Baring in einer pointierten Bestandsaufnahme der deutschen Politik kurz nach der Wiedervereinigung: „Interessen gelten als etwas Minderwertiges, Schmutziges; Interessen sind für viele die negative Seite des Kapitalismus, der gern genutzt, aber selten bejaht wird. Wir wollen an eine ideale Welt glauben, an das vereinte Europa, an Menschenrechte, den Fortschritt.“ Zur Ergänzung: Soweit es um individuelle Interessen geht, werden diese nicht nur bejaht, sondern lautstark eingefordert. Vom Staat wird erwartet, daß er die individuellen Begehrlichkeiten schützt, doch die Funktionsfähigkeit, die er dafür benötigt, ist keinen Gedanken wert.

In Deutschland wurde der soziale Gedanke zum stärksten Antrieb in der Innenpolitik. Er determiniert die Entscheidungen der Regierung und inzwischen auch der Justiz. Zuletzt schlug sich das im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen nieder.

Die Fehldisposition, die Baring benennt, ist also nicht bloß psychologischer Natur, sie verweist auf die eingeschränkte Fähigkeit zur Politik und zum politischen Denken überhaupt. Diese Unfähigkeit erreicht ihren Gipfel in der Behauptung, das höchste deutsche Interesse bestehe darin, keine Interessen zu haben, die sich von denen der anderen unterschieden.

Die deutsche Staatsethik ist erheblich unterentwickelt. Der Begriff „Staatsethik“ meint erstens „die Pflicht des Staates, die in seiner Unterwerfung unter ethische Normen liegt“, zweitens „die Pflichten gegenüber dem Staat“ und drittens „eine weitere ganz anders geartete staatsethische Pflicht, nämlich die Pflicht zum Staat“ (Carl Schmitt). Nur ein funktionierender Staat befähigt ein Volk zum politischen Handeln.

Mit der Unterwerfung des Staates unter – häufig nebulöse – ethische Normen haben Politik, Medien und Wähler in Deutschland keine Schwierigkeiten; im Gegenteil, sie wird bis zur staatlichen Selbstaufgabe gefordert und praktiziert. Redewendungen wie „Moral statt Macht“ bringen diese politik- und staatsfeindliche Denkweise auf den Punkt. Der Staatsrechtler Ernst Forsthoff sprach mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland von einer „staats­ideologischen Unterbilanz“, denn die Kraft des nationalen Gedankens war nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs „gebrochen“ und lief sich an der deutschen Teilung endgültig wund. In Deutschland wurde der soziale Gedanke zum stärksten Antrieb in der Innenpolitik. Er determiniert die Entscheidungen der Regierung und inzwischen auch der Justiz. Zuletzt schlug sich das im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen nieder.

Rechtsstaatliche Gewährleistungen sind eigentlich Ausgrenzungen: Freiheit der Person, die Glaubens-, Meinungs-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, die Eigentumsgarantie oder das Erbrecht sind Grenzziehungen, vor denen der Staat haltmacht. Dagegen sind die sozialstaatlichen Gewährleistungen auf Teilhabe aus. „Die Teilhabe als Recht und Anspruch meint einen leistenden, zuteilenden, verteilenden, teilenden Staat, der den einzelnen nicht seiner gesellschaftlichen Situation überläßt, sondern ihm durch Gewährungen zu Hilfe kommt.“ Es liegt in der menschlichen Natur, daß einmal geweckte und befriedigte Begehrlichkeiten schnell als Normalzustand empfunden werden und neue Begehrlichkeiten wecken, die durch den weiteren Ausbau des Sozialstaats gestillt werden.

Nun möchten die Bürger, soweit sie sich ein Gefühl von Würde und Stolz bewahrt haben, ihre Existenz in der Erfüllung materieller Genüsse genausowenig erschöpft sehen, wie sie die Ausübung reiner, unverstellter Macht ertragen. Daher hat der Staat, selbst der auf den Sozialstaat reduzierte, einen Bedarf an Staatsideologie. Die Bundesrepublik ist aus geschichtlichen Gründen und wegen der Umstände ihrer Entstehung nicht fähig, diesen Bedarf zu decken. Forsthoff: „In einer solchen Lage entsteht ein Horror vacui. Der Ideologiebedarf wird anderweitig befriedigt. Was auf diese Weise beigetragen wird, muß notwendig unpolitisch und surrogatär sein, denn wäre es anders, so würde es zum Horror vacui gar nicht erst kommen. Der Staat kann sich dieser Ersatzbefriedigung nicht nur nicht erwehren, sondern ist auf sie angewiesen. Auf diese Weise kommt es zum Paradoxon einer surrogatären, unpolitischen Staatsideologie. Die Voraussetzung dessen ist natürlich ein Staat, in dem nennenswerte politische Spannungen nicht bestehen und dessen Politik darauf gerichtet ist, politische Spannungen zu vermeiden.“

Dieser Staat erstarrt und ist selbst dort zu keiner Bewegung mehr fähig, wo er sich zum langfristigen Erhalt des Sozialstaats bewegen müßte. Er generiert eine Ethik, in der die Pflicht gegenüber dem und zum Staat verwässert ist. Statt dessen wird der materielle Hedonismus durch einen moralischen ergänzt, der sich als eine höhere, moralischere Qualität der Politik versteht.

In Deutschland besteht diese surrogatäre Staatsideologie in einer Melange aus NS-Fixierung, Schuldkomplex, universalistischem Humanitarismus, Multikulturalismus und sozialen Ansprüchen. Die daraus resultierenden politischen und rechtlichen Verwirrungen neutralisieren den Staat auch nach außen. Ihre zerstörerische Kraft gegenüber dem Politischen und dem Gedanken des nationalen Selbsterhalts zeigt sich unter anderem in der Hemmung, die Ansprüche von Nicht-Staatsbürgern abzuwehren, wenn diese nur mit ausreichend Geschick und Nachdruck vorgebracht werden. In der Präambel des Grundgesetzes wird zwar das „Deutsche Volk“ als oberster Verfassungsgeber beschworen, doch in Artikel 1 (1) werden „die Würde des Menschen“ und ihr Schutz zum höchsten Anliegen und unmittelbar geltenden Recht und somit als bindend für Legislative, Exekutive und Judikative erklärt.

Diese Kombination hat dazu geführt, daß aus dem deklamatorischen Bekenntnis eine normative Tendenz abgeleitet werden konnte und eine völlige Umkehrung des staatlichen Selbstverständnisses stattgefunden hat. Seit den neunziger Jahren wurde es unter Politikern üblich zu betonen, daß die Präambel des Grundgesetzes nicht nur die Würde der Deutschen, sondern die aller Menschen meint. Denkt man diese Auffassung konsequent zu Ende, dann befiehlt das Grundgesetz die Auflösung Deutschlands. Ihn ihr schlägt sich nämlich die Überzeugung und mittlerweile auch die Praxis nieder, daß auf die vom Grundgesetz garantierten individuellen Grundrechte ein quasi-universelles Zugriffsrecht besteht.

Mauerfall und Wiedervereinigung haben zu keiner Neubesinnung geführt, sondern den „Horror vacui“ vergrößert, was die Produktion surrogatärer Staatsideologie weiter steigerte. In der Folge sind die „Menschenrechte“ mehr oder weniger als soziale Rechte in Deutschland einklagbar geworden.

Aber tut sich deswegen nicht gerade eine Kluft zwischen den Funktionseliten und dem gemeinen Volk auf? Ist nicht, weil der Wohlstand im atemberaubenden Tempo dahinschmilzt, die Steuerlast erdrückend ist, ein Zuviel der Zumutungen erreicht?

Das zeigte sich in der Asylfrage und im Ausländerrecht. Obwohl völlig klar war, daß die wenigsten sich auf eine politische Verfolgung berufen konnten und der Rechtsstaat mit der verfassungsrechtlich gebotenen Einzelfallprüfung überfordert war – daß weiter die falschen Asylbewerber beziehungsweise ihre organisierten Schlepper mit ihrer schieren Masse auf einen Zustand der Anomie (Gesetzlosigkeit) in Deutschland spekulierten –, dauerte es quälend lange, bis eine schwerfällige Asylrechtsänderung eingeführt wurde. Seit 1970 hat sich die Zahl der Ausländer in Deutschland offiziell mehr als verdoppelt, während die Zahl der Beschäftigten unter ihnen konstant blieb.

De facto hat das wiedervereinigte Deutschland auf sein Selbstbestimmungsrecht verzichtet, denn dazu würde die freie Entscheidung über die Zulassung oder Zurückweisung von Zuwanderungswilligen gehören. Es erschien und erscheint sinnlos, dagegen mit staatsrechtlichen Begründungen und unter Hinweis auf nationale Eigeninteressen anzugehen, weil ein solches Denken in Deutschland nur rudimentär verankert ist, unverständlich wirkt und daher kaum öffentliche Resonanz findet.

Die sichtbare innere Schwäche verlockt auch zu äußeren Erpressungsversuchen, die überwiegend erfolgreich sind. Man muß kein prinzipieller Gegner des Euro sein, um zu sehen, daß in der Diskussion über seine Einführung – die im Kern eine Diskussion über den Verzicht auf die D-Mark war – der finanzpolitische Sachverstand nur eine untergeordnete, das deutsche Eigeninteresse gar keine Rolle spielten. Das galt noch mehr für die Festlegung des Teilnehmerkreises – und jetzt zahlen wir den vorhergesagten Preis.

Aber tut sich deswegen nicht gerade eine Kluft zwischen den Funktionseliten und dem gemeinen Volk auf? Ist nicht, weil der Wohlstand im atemberaubenden Tempo dahinschmilzt, ein Zuviel der Zumutungen erreicht? Nun, die vorhandene Wut und Verzweiflung tobt sich lediglich in den elektronischen Leserbriefspalten aus. Außerdem erschöpft die praktizierte Staatsideologie sich längst nicht mehr im politischen Immobilismus, sie besitzt einen aggressiven, geschichtstheologischen Einschlag. Ihre Vertreter besetzen öffentliche Schlüsselstellungen, und sie demontieren von innen her die Reste des herkömmlichen Staates, um seine Fragmente zu einem Staat neuen Typus, zu einem postnationalen Ideologiegebilde zusammenzusetzen. Es deutet sich an, daß dieses Gebilde eine ganz andere Härte besitzen wird als alles, was man – zumindest in Westdeutschland – bisher gewohnt war.

Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen tiefer als bis 1989/90 oder in die Zeit der 68er-Studentenbewegung zurück. Man muß bis zu den Anfängen der Staatsgründung gehen. Ernst Forsthoff deutete das an, indem er darüber Klage führte, daß „die Verfassung der Bundesrepublik keine Vorschriften über die Bestandssicherung im Falle einer ernsthaften Verfassungsgefährdung“ enthält. Er schrieb tatsächlich: Verfassungs-, nicht Staatsgefährdung und akzeptierte damit en passant, daß die Verfassung als Staatsersatz fungierte. Das Defizit an Staatsethik war bereits in die Fundamente des 1949 neukonstituierten Staates eingelassen worden, an den die DDR 1990 angeschlossen wurde. Wie auf dieser Basis eine Umkehr möglich sein soll, ist schwer ersichtlich.

 

Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte Germanistik in Leipzig. Er war 1997/98 Kulturredakteur der JUNGEN FREIHEIT und arbeitet heute als freier Autor und Journalist in Berlin. 2004 wurde er mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten ausgezeichnet. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über deutsche Literatur (JF 43/09).

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen