© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

Digitaler Selbstmord: Letzter Ausweg aus der Weltnetzverfreundung
Triff deine echten Nachbarn
Tobias Westphal

Die ganze Welt twittert und erfreut sich an der Kommunikation via facebook.de, xing.de, lokalisten.de, studivz.net oder linkedin.com. Getreu dem Motto „Zeig, wer du bist“ tritt man bei, „added“ Freunde und teilt der Online-Gemeinde allerlei Wichtig- und Belanglosigkeiten mit. Soweit, so gut. Gut?

Schutz der Privasphäre ist ein Wunschtraum

Eigentlich müßte den Netzwerkern der Schweiß auf der Stirn stehen – haben doch jüngst IT-Experten des International Secure Systems Labs (www.iseclab.org) erhebliche Daten-Sicherheitslücken nachgewiesen. Vereinfacht gesagt: Netzwerk-Mitglieder können auch außerhalb des Netzwerks identifiziert werden, da sie im Netzwerk unterschiedlichen Gruppen angehören. Diese Gruppenzugehörigkeit ist so individuell wie ein Fingerabdruck, und die dadurch mögliche Identifizierung kann durch Interessierte mißbraucht werden.

Der Schutz der Privatsphäre eine Schimäre? Facebook ein offenes Buch? Grünen-Chef Cem Özdemir kann ein Lied davon singen, nachdem eine Facebook-Freundschaft mit dem Intensivstraftäter „Mehmet“ bekannt gemacht wurde.

Datenmißbrauch? Falsche Freunde? Da hilft nur der digitale Selbstmord – die Löschung des Online-Profils aus allen Online-Netzwerken als letzter Ausweg.

„Freunde treffen statt Freunde adden! Werde wieder Herr über Deine Online-Identität!“ erklärt die Aussteigerseite ausgestiegen.com, gibt Anleitungen und zitiert Betroffene: „Incanus ist von XING am 2. März 2010 ausgestiegen, ‘weil es in zwei Jahren Dabeisein absolut nichts gebracht hat. Null. Also schade um die Zeit und weg damit!’“ Björn K. ist von Facebook ausgestiegen, „weil ‘es nicht sein kann, daß dort das Leben ist. Freunde? Klick! Das Leben ist nicht so einfach. Es ist mehr!’“

Anleitungen zum Ausstieg findet man hier genug: ob die Variante „Babyleicht“ für Gelegenheitsaussteiger, die „Geister-Account“-Variante für durchtriebene Zeitgenossen oder den „Point of no return“ für Festentschlossene, die ihren Netzwerk-Konten in Eigenregie den Garaus machen wollen.

Wem das zuviel ist, der greife in seiner Verzweiflung zur „Web 2.0 Suicide Machine“ (www.suicidemachine.org). Unter dem Motto „Wanna meet your real neighbours again?“ wird hier das überdrüssig gewordene Online-Leben auf den Netzwerken Twitter, Linkedin, MySpace oder Facebook umfassend und schnell gelöscht, wobei sich letzteres der Internet-Suizidmaschine mit allen Finten verweigert. Ist es die Angst, daß der digitale Selbstmord in Mode kommt und das Netzwerk zahlreiche „Kunden“ verliert?

Arbeitet die Suizidmaschine aber korrekt, werden Freunde wieder „entfreundet“, alle Informationen und Einträge gelöscht und dann der komplette Account deaktiviert.

Das Löschen von Daten gleicht dem Kampf gegen Windmühlen

Was nun für den einen die Freude am neuen Leben ist, ist für den anderen ein Problem. Während die einen sich unter www.ausgeloggt.net die richtigen Tips holen („Ruf deine Freunde an. Geht was trinken. Nutze deine Zeit sinnvoll – draußen im echten Leben“), erleben die anderen, wie wichtig das digitale Leben genommen wird.

Manches Unternehmen akzeptiert nur noch Online-Bewerbungen. Wer da nicht mithalten kann oder Schwächen bei einer E-Mail- oder Online-Bewerbung zeigt, der wird schnell aussortiert. Ein Unternehmen in der Werbebranche suchte gar einen Marketing-Experten, der außer einem Universitätsabschluß als Einstellungsvoraussetzung auch mindestens 250 Follower auf twitter.com vorweisen konnte.

Ob man im richtigen Leben dann auch ein richtiges Leben führt, liegt an jedem selber. Immerhin sind Netzwerke ja grundsätzlich nützlich, ob im Freundeskreis, Politik oder Beruf. Denn wenn der ehemalige Arbeitskollege einen neuen Job hat oder Freunde die Stadt verlassen oder Schulfreunde ihre Klassenkameraden suchen – diese Netzwerke vereinfachen es, Kontakt herzustellen und auch in Verbindung zu bleiben.

Wer sich dennoch für digitalen Selbstmord entscheidet, weil ihm gerade all die gewollten und ungewollten Einträge im Weltnetz Kopfzerbrechen machen, steht vor einem Dilemma. Das Internet vergißt nichts. Schon gar nicht die tollen Online-Fotos auf http://images.google.de, bei denen auch noch als einziges Hobby „Exzessives Feiern in einer Saunalandschaft“ angegeben wurde – gefundenes Fressen für jeden Personalentscheider.

Da hilft auch kein Selbstmord-Web 2.0. Ist so ein witziger, nach hinten losgehender Eintrag unter großem Arbeitsaufwand irgendwo gelöscht, wurde er woanders schon längst kopiert. Kampf gegen Windmühlen, nennt man das – so mancher moderne Don Quijotte hat ihn bereits aufgegeben.

Aber es gibt sie noch, die Helden von datenwachschutz.de, deinguterruf.de oder reputationdefender.com, die den Kampf gegen die unangenehme Datenflut unbeirrbar weiterführen und digitale Heilung versprechen.

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