© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Auf Augenhöhe
Staatsverständnis: Deutschland muß sich auch Israel gegenüber als politisches Subjekt behaupten
Thorsten Hinz

Ganz ohne Sentimentalitäten, Sympathien und Antipathien geht es auch in der Realpolitik nicht ab. Nehmen wir das kleine Ungarn, das im Sommer 1989 seine Grenzen für DDR-Flüchtlinge öffnete und die Berliner Mauer samt SED-Regime tödlich unterminierte. Solche Ereignisse führen zu emotionalen Bindungen, zu Grundsympathien, die zwar die Politik nicht ersetzen, aber stark beeinflussen. Das gilt, unter anderen Vorzeichen und in intensiverer Qualität, auch für die Beziehungen zu Israel. Vor dem Hintergrund des Mordes an den europäischen Juden leuchtet es ein, daß Deutschland mit Israel solidarisch ist, daß es sich mit Kritik an ihm zurückhält und der jüdische Staat eine gewisse Narrenfreiheit besitzt.

Etwas anderes aber ist es, wenn Kanzlerin Merkel in bezug auf den Iran die israelischen Positionen unbesehen übernimmt und damit die Stellung Deutschlands gegenüber einem großen muslimischen Staat kompromittiert. Das geschichtliche Argument dient dazu, die deutsche Politik von außen her – und zwar einseitig – zu definieren. Das demonstrierte die Rede des israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres am 27. Januar vor dem Deutschen Bundestag. Sie war – soweit sie Peres’ Familiengeschichte betraf – eindrucksvoll und bewegend, doch sie enthielt nichts Neues und aus deutscher Sicht jedenfalls nichts, was notwendig vor dem Parlament wiederholt werden mußte. Für Peres aber ging es darum, die suggestiven Erinnerungen mit aktuellen politischen Forderungen zu verknüpfen. Bundestagspräsident Norbert Lammert war ihnen schon in seiner Eröffnungsansprache präventiv entgegengekommen, indem er von einer „historisch begründeten besonderen Verantwortung“ Deutschlands für Israel sprach.

Der Begriff „historische Verantwortung“ ist vage und für moralische Aufladungen offen. Seine konkrete Auslegung ist eine Definitions- und Machtfrage. Weil wir es hier mit einer klaren Täter-Opfer-Relation zu tun haben, die, so Lammert, für alle Zukunft „wachzuhalten“ sei, impliziert er das Vorrecht Israels festzulegen, wie Deutschland seiner Verantwortung konkret nachzukommen hat. Diese Konsequenz steckt auch in dem ominösen Satz, den Kanzlerin Merkel 2008 vor der israelischen Knesset aussprach: „Diese historische Verantwortung ist Teil der Staatsräson meines Landes.“

Weder die Kanzlerinnenworte noch die politischen Verhältnisse, der sie entspringen, stellen göttliche Offenbarungen oder ein höheres Wissen dar. Sie resultieren aus politischen Entscheidungen und Entwicklungen, die im Zusammenhang mit dem Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn im Juni 1967 getroffen bzw. in Gang gesetzt wurden. Norman Finkelstein, Peter Novick und andere haben beschrieben, wie das Dogma von der Einzigartigkeit des Holocaust dazu dienen sollte, weltweite Unterstützung für Israel zu mobilisieren. Es war naheliegend, daß Deutschland in den Fokus dieser Bemühungen geriet und als drittstärkste, moralisch aber gebrochene Wirtschaftsmacht zum Adressaten politischer und finanzieller Begehrlichkeiten wurde.

Natürlich wurde und wird mit moralischen Erpressungen gearbeitet, die zunächst noch Widerspruch hervorriefen. Als 1966 der israelische Ministerpräsident bei einem Empfang für Konrad Adenauer bezweifelte, daß Deutschland seit dem Dritten Reich noch dem Kreis der Kulturnationen angehöre, war der Altkanzler nur durch eine Entschuldigung vom Eklat abzubringen.

Im Oktober 1973 wickelten die USA den militärischen Nachschub für Israel über Bremerhaven ab und versetzten ihre Truppen ohne vorherige Konsultationen weltweit in Alarmbereitschaft. Bundeskanzler Willy Brandt ließ daraufhin in Washington offiziellen Protest einlegen. Die USA verwiesen in ihrer Antwort auf die beschränkte Souveränität der Bundesrepublik und auf das Recht der USA, Maßnahmen zu ergreifen, die sie im Interesse der internationalen Sicherheit für notwendig erachteten.

Als 1989 wenige Tage nach dem Fall der Mauer der israelische Ministerpräsident Yitzhak Schamir im amerikanischen Fernsehen spekulierte, die Deutschen könnten sich entschließen, „es“ – den Holocaust – „wieder zu tun“, schrieb Kanzler Kohl ihm einen zornbebenden Brief und warnte Shamir davor, „unsere sonst guten und spannungsfreien Beziehungen zu belasten“. Alle drei – Adenauer, Brandt und Kohl – waren in ihrer Haltung zur NS-Vergangenheit und zu Israel über jeden Zweifel erhaben. Zugleich hatten sie aber auch eine Vorstellung von politischer Handlungsfähigkeit, die ohne nationale Selbstachtung nicht zu haben ist.

Den Kern des deutsch-israelischen Verhältnisses bilden also keine abstrakten moraltheologischen Probleme, sondern es geht um die Frage, wieweit Deutschland überhaupt noch ein politisches Subjekt sein kann, wieweit es in der Lage ist, innere Probleme und die Haltung gegenüber anderen Ländern unter Abwägung eigener Interessen selber zu bestimmen. Wenn es diese Kraft oder Fähigkeit verliert, so ist seine politische Existenz beendet. Wenn eine äußere Macht ihm vorschreibt, wer seine Gegner sind, gegen wen es zu kämpfen hat und wie es sein inneres Leben ordnet, so ist es politisch nicht frei, weil es einem anderen politischen System ein- bzw. untergeordnet ist. Und das nicht durch den Zwang militärischer Besatzung, sondern durch die Okkupation der kollektiven Erinnerungen, des historischen Denkens und der politischen Grammatik.

Der aktuellen Politikergeneration liegen solche Überlegungen fern. Ihr Weltbild wurde exklusiv durch das bundesdeutsche Erziehungswesen konditioniert oder – wie das der Kanzlerin – von einem System, zu dessen Ritualen es gehört, die ewige und unwiderrufliche Verbundenheit mit der politisch-moralischen Vormacht zu beschwören. Die Folgen reichen, wie die augenblickliche  EU-Krise zeigt, über das bilaterale Verhältnis zu Israel hinaus. Zuerst liefert Deutschland die Hoheit über seine Geschichte ab, dann sein Recht und schließlich sein Geld.

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