© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Abschied vom Heer der 100.000 Mann
Vor 75 Jahren wurde mit der Einführung der Wehrpflicht die Wiederaufrüstung des nationalsozialistischen Deutschen Reichs eingeleitet
Jan von Flocken

Joseph Goebbels, Propagandaminister des Dritten Reiches, gab am Nachmittag des 16. März 1935 eine Erklärung der Regierung an das deutsche Volk bekannt. Darin hieß es, „daß die Wahrung und Sicherheit des Deutschen Reiches von jetzt ab wieder der eigenen Kraft der deutschen Nation anvertraut wird“. In drei knappen Paragraphen wurde danach die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt. Sie trat ab 1. Oktober 1935 in Kraft, umfaßte einen Wehrdienst von einem Jahr und sah vor, die Reichswehr (später Wehrmacht) von sieben auf 36 Divisionen zu erweitern. Parallel dazu sollte eine Luftwaffe aufgebaut werden.

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war Deutschland durch den Versailler Vertrag auch eine ebenso demütigende wie gefährliche Einschränkung im militärischen Bereich aufgezwungen worden. Künftig durfte das Heer nie mehr als 100.000 Berufssoldaten, die Marine 15.000 Mann umfassen. Sämtliche modernen Waffen einschließlich Panzern, Flugzeugen und U-Booten waren verboten. Damit wäre das Deutsche Reich im Kriegsfall de facto wehrlos geworden. Selbst seine kleineren Nachbarstaaten besaßen zusammen mehr Soldaten als Deutschland, so die Niederlande mit 120.000, Dänemark mit 30.000 und Litauen mit 60.000 Mann.

Grundlagen waren bereits in Weimarer Republik gelegt

Diese militärische Kastration bildete eine der schwersten Erblasten des Versailler Diktats. Den meisten europäischen Politikern war klar, „daß die einseitige Abrüstungspolitik der Sieger niemals akzeptiert wurde – weder vom Offizierskorps noch von der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes“, so der französische Historiker Philippe Masson. Eine Woche nach Goebbels’ Bekanntmachung veröffentlichte der Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten am 23. März 1935 einen Aufruf. Darin erklärte der Bundesvorsitzende, Hauptmann a.D. Leo Löwenstein, im Namen von 40.000 Mitgliedern, der Bund halte es „als Wahrer der soldatischen Traditionen und der soldatischen Erziehung der deutschen Juden für deren unveräußerliches Recht, mit der Waffe unter der allgemeinen Wehrpflicht Deutschland zu dienen“.

Nachdem auch das schwerbewaffnete Ausland keine größeren Proteste gegen die deutsche Nachrüstung verlauten ließ, stellte sich die Frage, wie innerhalb weniger Monate aus dem 100.000-Mann-Heer eine Wehrmacht mit etwa 580.000 Kombattanten geschaffen werden könnte. Die Grundlagen dafür waren bereits während der Weimarer Republik gelegt worden.

Die beiden großen Verlierer des Weltkriegs, Deutschland und die Sowjetunion, begannen nach dem Rapallo-Vertrag von 1922 eine intensive militärische Kooperation. Ab Juni 1925 nahm in Lipezk, 350 Kilometer südlich von Moskau, die „Fliegerinspektion 1“ ihren Betrieb auf. Hier wurden „in freundschaftlichem Einvernehmen“ bis September 1933 mehr als 120 deutsche Jagdflieger, etwa 100 Beobachter sowie zahlreiches Bodenpersonal und Techniker ausgebildet. Das Training erfolgte auf niederländischen Jagdmaschinen vom Typ Fokker D XIII. Der Jahresetat dieser Schule, an der sechzig ehemalige Jagdflieger des Ersten Weltkriegs lehrten, betrug bis zu 3,9 Millionen Reichsmark.

Ab Dezember 1926 nahm nahe der zentralrussischen Stadt Kasan die „Kampfwagenschule“ für deutsche Militärs (Deckname „Kama“) ihren Betrieb auf. Hier wurden Panzerfachleute wie der spätere General Heinz Guderian in der „Taktik motorisierter Transportverbände“ geschult. Auf einem großen, hermetisch abgeschotteten Übungsgelände wurden bei Kasan auch wesentliche Prinzipien der künftigen Blitzkriegführung – massierter Einsatz von Panzer- und motorisierten Divisionen in der Hauptstoßrichtung – erprobt. Im Gegenzug absolvierten Hunderte sowjetische Stabsoffiziere Spezialkurse für Infanteriekampf der Reichswehr in Deutschland.

Durch diese getarnten Vorgänge konnte der technische Rückstand weitgehend wettgemacht werden. Überdies nutzte in den zwanziger Jahren der Chef der deutschen Heeresleitung, General Hans von Seeckt, eine Lücke im Versailler Vertrag. Dort war die Zahl der Unteroffiziere nicht festgelegt worden. Aus den jährlich etwa 90.000 Bewerbern für einen Platz in der Reichswehr konnte man jeweils 9.500 Mann nach einer strengen Auslese in physischer, intellektueller und moralischer Hinsicht auswählen. Mehr als die Hälfte des Mannschaftsbestandes wurde Jahr für Jahr zu Unteroffizieren oder Gefreiten ausgebildet.

Armeestärke in nur drei Jahren verfünffacht

Das Grundprinzip lautete: Jeder Soldat ist so zu schulen, daß er die Funktion der nächsthöheren Dienstgradgruppe ausfüllen kann. Dadurch gelang es, die Reichswehr ohne Qualitätsverluste personell zu verdreifachen. Dazu trugen auch mehrere hundert Weltkriegsoffziere bei, die nach 1918 bei Polizei oder Gendarmerie dienten und die nun reaktiviert wurden. Im Jahre 1938 umfaßte die Deutsche Wehrmacht bereits 51 Divisionen, davon aber nur fünf Panzer- und vier motorisierte Infanteriedivisionen. Das war zwar ein beachtenswerter Aufschwung. Für einen erfolgversprechenden Angriffskrieg reichten die materiellen Mittel aber bei weitem noch nicht aus. Selbst zu Beginn des Frankreichfeldzugs im Mai 1940 standen den etwa 2.400 deutschen Panzern 4.200 der Westalliierten gegenüber. Das Verhältnis bei den Geschützen betrug 7.400 zu 14.000. Den Ausschlag konnte hier nur überlegene Führungskunst geben.

Wenige Monate nach Verkündung der allgemeinen Wehrpflicht  lag dann schon der erste Kriegsplan vor. Am 1. Oktober 1935 erarbeitete der deutsche Generalstab den „Aufmarsch Rot“; er beinhaltete die Vorgehensweise in einem defensiv geführten Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und die Tschechoslowakei.

Foto: Musterung Wehrpflichtiger für die Wehrmacht 1935: Schulung auf die Funktion höherer Dienstgrade

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