© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Parallelen aus den „Völkerkerkern“
Das Deutsche Kulturforum östliches Europa debattierte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Österreich-Ungarn und der Europäischen Union
Ekkehard Schultz

Die österreichische Habsburgermonarchie war bis zu ihrer Auflösung am Ende des Ersten Weltkriegs ein multinationaler Staat. Bei seinem Zerfall im Herbst 1918 galt dieses Reich in den Augen vieler zeitgenössischer Politiker aus West und Ost gleichermaßen als „Völkerkerker“. Doch spätestens seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Beitritt der Nachfolgestaaten zur EU hat sich diese Sicht deutlich verändert. Inzwischen wird die einstige Donaumonarchie sogar als Vorbild für ein gemeinsames Europa verklärt.

Nähert sich die Union wieder dem alten Modell Habsburg an? Zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen fand im Februar in der Tschechischen Botschaft in Berlin eine Diskussionsveranstaltung statt, die vom Deutschen Kulturforum östliches Europa organisiert wurde. In seinem Einleitungsvortrag gab der kroatische Historiker Jozo Dzambo einen Rückblick auf die Feier zum 60jährigen Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph I., die am 12. Juni 1908 in Wien stattfand. Zu diesem Anlaß sollte mit einem großen Festzug die Einheit des Vielvölkerstaates präsentiert und die „übernationale Idee“ beschworen werden. Tatsächlich weigerten sich aber die Tschechen ebenso wie die Ungarn, für den sogenannten Nationalitätenteil des Zuges eigene Vertreter zu entsenden.

Für viele zeitgenössische Betrachter war dies nicht verwunderlich, da sich gerade in diesen Jahren die Spannungen zwischen den einzelnen Volksgruppen weiter verschärften. So mußte während der Annexion Bosniens, die auf den massiven Widerstand der slawischen Bewohner der Monarchie stieß, in Prag mehrfach das Standrecht verhängt werden. Zudem kam es regelmäßig zu schweren Ausschreitungen zwischen den Abgeordneten verschiedener nationaler Abstammung im Reichsrat sowie in den Landtagen. So erwies sich auch die in Wien präsentierte „traumhafte Vision“ letztlich als „Chimäre“, so Dzambo.

Nach Auffassung der slowenischen Dolmetscherin Amalija Macek habe das größte Problem des Habsburgerstaates darin gelegen, daß dieser „sehr groß“ und „sehr unterschiedlich“ gewesen sei. Insbesondere in den letzten Jahren der Monarchie hätten sich viele Völker die Frage gestellt, ob ihre eigenen Interessen angemessen berücksichtigt würden und wofür sie eigentlich im Weltkrieg kämpften. Ähnliche Fragen und Sorgen bewegten heute die Menschen im Hinblick auf die EU. So sehr die Slowenen einerseits die Aufnahme ihres Landes in die Union aus wirtschaftlichen und kulturellen Erwägungen begrüßt hätten, so groß sei andererseits ihre Befürchtung, innerhalb eines riesigen Gebildes in Zukunft kaum mehr berücksichtigt zu werden. Diese Sorge speise sich nicht zuletzt auch aus der Einsicht, daß die Arbeitsfähigkeit der EU durch die vielen Mitglieder und unter dem damit verbundenen hohen bürokratischen Aufwand leide. Ein größerer Zentralismus gehe jedoch nahezu zwangsläufig mit einem deutlichen Verlust der wiedergewonnenen demokratischen Freiheiten einher.

Auch für den tschechischen Historiker Jaroslav Sebek sind Parallelen zwischen der Habsburgermonarchie und der heutigen EU unverkennbar. Der Umbruch von 1918 sei damals von den meisten Völkern als Zwangsläufigkeit begriffen worden. Gleichwohl hätten sich die Verhältnisse in den meisten Nachfolgestaaten kaum verbessert. So entwickelten sich fast alle nach dem Ersten Weltkrieg gebildeten demokratischen Regime innerhalb weniger Jahre zu Diktaturen und autoritären Regimen. Dazu habe einerseits der aus der Endphase der Habsburgermonarchie übernommene Nationalismus beigetragen, der sich unter den neuen Bedingungen sogar noch verstärkt hätte.

Hinzu kamen nun aber noch die schweren weltanschaulichen Auseinandersetzungen innerhalb der Völker, die bis 1918 in dieser Form unbekannt waren. Aus rückwärtiger Perspektive sei daher die Habsburgermonarchie „besser gewesen als all das, was ihr folgte“, so Sebek. Zu dieser Einschätzung trage auch bei, daß es bis zum Ersten Weltkrieg eine gute wirtschaftliche Entwicklung gegeben habe, während die Nachkriegszeit durch schwere Krisen gekennzeichnet war.

Auf der anderen Seite belegt für Sebek das Beispiel des alten Österreich, daß die Stabilität einer Gemeinschaft von weit mehr Faktoren abhängt als lediglich von der Ökonomie. Gerade daher sei es wichtig, daß die EU künftig ein stärkeres Gewicht auf ihre Rolle als politischer Faktor sowie auf gemeinsame geistige und moralische Werte lege. Gleichwohl müsse der bisherige Meinungspluralismus erhalten bleiben und eine nicht zu große Dominanz über die einzelnen Staaten ausgeübt werden.

Der österreichische Historiker Hannes Grandits bewertete dagegen die Entwicklung der EU weit optimistischer als seine Kollegen. Denn in dieser spiele bei den meisten Eliten der Nationalismus keinerlei bedeutende Rolle mehr – im Gegensatz zur Habsburgermonarchie.

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