© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

„Die Zeit war abgelaufen“
Frust über Schwarz-Gelb, „Brot und Spiele“ statt Politik – Werden wir noch regiert? Oder ist Berlin das neue Rom?
Moritz Schwarz

Herr Professor Heather, Verschuldung, Sozialausgaben nach dem Motto „Brot und Spiele“, eine Regierung, die de facto nicht regiert – hat Guido Westerwelle vielleicht unfreiwillig das eigene Regierungsversagen beschrieben, als er unlängst von „spätrömischer Dekadenz“ sprach?

Heather: Nein, diese Terminologie ist so falsch, wie sie alt ist. Heute wissen wir, Rom ist nicht an sich selbst zugrunde gegangen.

Der derzeitige Frust der Regierten, die Unlust der Regierenden – erinnert Sie das alles nicht an die Endzeit des Römischen Reiches?

Heather: Ich widerspreche erneut, die Spätantike war keine Gesellschaft im Verfall, die Rede von „spätrömischer Dekadenz“ entbehrt der historischen Grundlage.

Aber Ihr Buch „Der Untergang des Römischen Weltreichs“ hat doch wesentlich dazu beigetragen, die Deutung des Endes der Römer als „Untergang“ wieder zu etablieren.

Heather: Das stimmt, nachdem lange Zeit die Transformations-These in der Historiker-Zunft virulent war – auch wenn der Normalbürger davon wenig mitbekommen hat.

Diese deutete den blutigen Untergang zu einem sanften Übergang um.

Heather: Von der spätrömischen zu den nachrömischen, germanischen Gesellschaften, ja. Doch für viele Menschen war es eher ein Untergang mit einschneidenden Folgen.

Was bezweckte diese These?

Heather: Sicher muß das auch in Zusammenhang mit der sich formenden Europäischen Union gesehen werden. Zur Bildung eines gemeinsamen Europa paßt natürlich viel besser die Vorstellung, dieses sei weich und konsensuell aus einem römischen Eu-ropa heraus geboren worden.

Das Ende Roms als multikultureller Erfolg statt eines Invasionsdesasters?

Heather: Ich muß meine Kollegen in Schutz nehmen: Die meisten Historiker die der Transformations-Theorie anhängen, sind als Wissenschaftler davon überzeugt. Und was das Thema Multikulturalismus angeht: Wie Sie andeuten, ist Rom an seinen Invasoren, nicht an seinen Einwanderern gescheitert.

Die es allerdings auch, ohne zu zögern, mit einer starken Leitkultur domestizierte.

Heather: Das stimmt, die römische Lebensart war bestimmend, so wie später die Völker der britischen Kolonien anfingen, Kricket zu spielen, und sich auch sonst britisch gaben. Allerdings waren Rom und Großbritannien damals Imperien, heute haben wir Europäer diese Haltung nicht mehr.

Manche halten die Transformations-Theorie auch für ein Mittel, um das Wort „Untergang“ als mächtige Waffe im Arsenal konservativer Kulturkritik unschädlich zu machen.

Heather: Auch da ist sicherlich etwas Wahres dran. Allerdings weist die Transformations-Theorie zu Recht darauf hin, daß sich das Leben im späten Römerreich nicht in Agonie befand. Wie gesagt ist die Vorstellung, die Römer seien durch inneren Verfall untergegangen, falsch. Die Transformations-Theorie hat recht, wenn sie betont, daß die Gesellschaft bis zuletzt funktioniert hat.

Warum ist das Imperium dann gescheitert?

Heather: Alle Gesellschaften gründen auf einer bestimmten Entwicklung. Wenn die Zeit dafür vorbei ist und neue Entwicklungen entstehen, verlieren sie diese Grundlage. Rom zerbrach an einer veränderten Umwelt, nicht am inneren Zerfall.

Warum verbinden wir dann das Wort Dekadenz automatisch mit Rom?

Heather: Die Leute denken dabei in der Regel an das erste und zweite Jahrhundert nach Christus, zum Beispiel an die Zeit Neros. Damals wurden in der Tat enorme Mengen Reichtum verschleudert – doch das war nicht die Spätzeit. Dann gibt es die Vorstellung, zwar sei der Höhepunkt der „Dekadenz“ früher gewesen, sie habe aber den in der Spätzeit durchgeschlagenen Niedergang ausgelöst. Aber auch das ist falsch. Nochmal: Es gab einen Unter-, aber keinen Niedergang.

Baden-Württembergs FDP-Justizminister Ulrich Goll sorgt nun ebenfalls für Unmut: Unlängst plauderte er selbstkritisch aus, seine eigene Regierung mache Politik nach dem Motto „Brot und Spiele“. Auch wenn Sie für Rom keinen inneren Niedergang sehen – vielleicht sind wir ja diesbezüglich schon weiter?

Heather: Solche Bezugnahme auf Dekadenz ist ein beliebter Topoi von Politikern, aber tatsächlich läßt sich diese in der Geschichte nicht finden.

Was meinen Sie?

Heather: Gesellschaften steigen auf und werden reich. Ab diesem Moment verändern sie sich. Etwa beginnen die Debatten um die Verteilung des Reichtums, was aber nur natürlich ist. Oben angekommen, haben sie zudem nur noch zu verlieren, weil auf jeden Aufstieg irgendwann der Abstieg folgt. Und da keine Gesellschaft ewig existiert, ist diese Bedrohung auch real. Doch die Menschen wollen nicht akzeptieren, daß irgendwann auch ihre Stunde geschlagen hat. Deshalb flüchten sie sich in die Vorstellung von „Dekadenz“, womit es irgendwie in ihrer Hand liegt: Sie hoffen so, die Geschichte überlisten zu können. Dazu kommt, daß Politiker Spielraum für ihr Handeln benennen müssen, sonst brauchen sie ja gar nicht erst anzutreten. Also flüchten auch sie sich zu der Vorstellung von etwas, das sie beeinflussen können: den angeblichen Verfall der Sitten stoppen und Rückkehr zu alten Tugenden.

Dekadenz als kulturelle Suggestion?

Heather: Ja, es handelt sich wohl um ein eingebildetes, psychologisches, nicht um ein tatsächliches, historisches Phänomen: Eine Chiffre für die seelische Reaktion einer Gesellschaft, die fürchtet, ihren Reichtum zu verlieren.

Reichtum erwerben ist etwas anderes, als ihn zu genießen – der Unterschied ist: Dekadenz.

Heather: Das unterstellt, daß der Erwerb moralisch besser sei als der Genuß. Wie wollen Sie das begründen?

Vielleicht weil dieser zu Maßlosigkeit führt: Trotz unseres Reichtums verschulden wir uns immer mehr – auf Kosten der Zukunft und egal, wer regiert. Es erscheint wie ein Fluch.

Heather: Das ist zwar richtig, aber ich kann nicht erkennen, warum die Epochen, in denen wir die Grundlagen unseres Reichtums gelegt haben, moralischer sein sollen? Damals haben wir mit Sklaven gehandelt, durch Ausbeutung unsere Industrie aufgebaut, haben mit Waffengewalt Kolonien, Rohstoffe und Märkte gewonnen. Ist das moralischer als sich einen überbordenden Wohlfahrtsstaat zu leisten? Ich finde nicht.

Angeblich kommt man auf 250, zählt man sämtliche Thesen für den Untergangs Roms zusammen. Darunter auch „zu warme Hoden“ und den Klassiker: zu hohe Steuern.

Heather: Ich glaube, die Sache mit den Hoden können wir fallenlassen. Die Steuern schossen allerdings tatsächlich in die Höhe, als der Ansturm der Barbaren die Militärausgaben in die Höhe trieb. Aber auch das war nicht der Grund für das Ende. Nein, so ernüchternd es sein mag, Roms Zeit war einfach abgelaufen.

 

Prof. Dr. Peter J. Heather, gelang mit seinem „faszinierenden“ (NZZ) und „grundlegenden“ (SZ) Buch „Der Untergang des Römischen Weltreichs“ (Klett-Cotta, 2007) ein „großer Wurf der Geschichtswissenschaft“ (FAZ).  Der britische Historiker, Jahrgang 1960, lehrte in Oxford und Yale und ist heute Professor am King‘s College in London.

 

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