© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

„Die Stiftung zerbröckelt“
Gedenkpolitik: Noch bevor das Vertriebenenzentrum seine eigentliche Arbeit aufgenommen hat, droht die Handlungsunfähigkeit
Lion Edler

Es ist eine ebenso kurze wie klare Beschreibung, die die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, auf der Internetseite des „Zentrums gegen Vertreibungen“ unter der Überschrift „Unser Ziel“ veröffentlicht hat: „Das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen und ihr kulturelles Erbe im kollektiven Gedächtnis Deutschlands zu verankern und Vertreibung als Mittel von Politik zu ächten.“ Angesichts der derzeitigen Rücktrittswelle aus dem wissenschaftlichen Beirat der Vertriebenenstiftung könnten in jenem kollektiven Gedächtnis bald nur noch die ewigen Querelen um diese bleiben.

Thierse spricht von einem Alarmsignal

Nachdem bereits im Dezember der polnische Historiker Tomasz Szarota dem Beirat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ den Rücken gekehrt hatte, traten nun zwei weitere Mitglieder aus. Er ist damit von einst neun Mitgliedern auf jetzt sechs geschrumpft.

Die tschechische Historikerin Kristina Kaiserová begründete ihr Ausscheiden mit einer „zunehmenden Politisierung“ der Stiftung. Es fehle ein „Konsens breiter wissenschaftlich-historischer Basis“. Kurz darauf verkündete auch die Publizistin Helga Hirsch ihren Rücktritt. Sie zeigte sich enttäuscht, weil es bis heute kein Konzept für die Dauerausstellung über Vertreibung und kein Programm für Veranstaltungen in diesem Jahr gebe. Insbesondere kritisierte sie Stiftungsdirektor Manfred Kittel (siehe das Portrait auf Seite 3) und forderte dessen Rücktritt. Kittel sei „einfach überfordert“. Anstatt in die Offensive zu gehen und Dinge zurechtzurücken, weiche er meist zurück. „Das heißt, wir existieren faktisch nicht in der Öffentlichkeit“, kritisierte Hirsch. Die Stiftung „zerbröckelt augenblicklich“, befürchtet die Publizistin und forderte die Aufstockung des Beirats auf etwa 15 Mitglieder, um ein breiteres Meinungsspektrum zu schaffen. Es fehle eine öffentliche Erörterung von Kernfragen: „Was unterscheidet Vertreibung von Vernichtung? Wo geht Vertreibung in Vernichtung über? Warum bedeutet über Vertreibung zu sprechen nicht, den Holocaust zu relativieren?“ Kittel hingegen sieht noch Abstimmungsbedarf in den Gremien, bevor man der Öffentlichkeit ein Konzept vorlegt. Er habe keine Alleingänge gegen den Stiftungsrat unternehmen wollen und werde dies auch weiterhin nicht tun.

Erika Steinbach dagegen verteidigte Kittel. Hirsch verkenne, daß nicht der Beirat, sondern der Stiftungsrat das Entscheidungsgremium sei. Der Beirat habe seine Aufgabe, „wenn die ganze Konzeption vorgestellt wird“. Die Rücktritte von Hirsch und Kaiserová hätten „jeweils auch sehr persönliche Gründe, wie mir bekannt ist“. So habe sich Kaiserová über den ungarischen Historiker im Beirat, Krisztián Ungváry, „geärgert“. Dies sei „im Grunde genommen ihr Austrittsgrund“ gewesen. Scharfe Kritik äußerten dagegen die beiden SPD-Politiker Angelica Schwall-Düren und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse in einer gemeinsamen Erklärung. Kaiserovás Rücktritt sei ein „Alarmsignal“, das Gremium müsse mit Wissenschaftlern besetzt werden, die „historisch fundiert und kritisch“ arbeiteten, anstatt „mehrheitlich den Ansprüchen des BdV zu entsprechen“. Es dürfe nicht passieren, daß der Zweite Weltkrieg neu interpretiert werde. Die Linken-Politikerin Luc Jochimsen verlangte von Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) und Direktor Kittel, dem Bundestag Rechenschaft über die Hintergründe der „Massenaustritte“ abzulegen. Falls dies nicht befriedigend erfolge, sei dies das Ende der Stiftung. Der polnische Historiker Tomasz Szarota hatte nach seinem Austritt den Beirat mit den Worten kritisiert, dort säßen lauter Deutsche, die dem BdV nahestünden. Es befände sich dort „kein einziger Forscher, der sich kritisch mit dem verqueren Geschichtsbild, den überhöhten Opferzahlen oder der braunen Vergangenheit vieler BdV-Funktionäre“ beschäftigen würde.

Mitten in die Krise platzt nun auch noch der Zentralrat der Juden mit einer Boykottdrohung. Vizepräsident Salomon Korn sagte dem Spiegel, wenn das Thema Vertreibung „nicht im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und dem nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen“ dargestellt werde, dann werde auch der Zentralrat das Gremium verlassen. Kulturstaatsminister Neumann, verantwortlich für das Projekt, kündigte eine Neuformierung des Beirats an. Er lege Wert auf „eine profunde und international vernetzte wissenschaftliche Beratung“, es gehe nun darum, „das wissenschaftliche Spektrum breit abzubilden“. Am Montag tagt der Stiftungsrat, um eine „kritische Bewertung der bisherigen Arbeit“ vorzunehmen.

Weitere Informationen zum Thema im Internet unter www.jungefreiheit.de

Foto: Deutschlandhaus in Berlin, der künftige Sitz des Vertriebenenzentrums: Rücktrittswelle

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