© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Pankraz,
der Hippocampus und die Übergriffe

Seit Wochen nun schon tobt in den Medien das Thema der sexuellen Mißbrauchsfälle, die aus Jesuitenkollegs, weltlichen Reformschulen und Knabenchören gemeldet wurden und werden. Analytikern der tagtäglich herumgereichten Informationen fällt es schwer, auch nur halbwegs Übersicht zu erlangen. Die Nachrichtenlage ist unübersichtlich, ja chaotisch, Faktologie mischt sich fast unentwirrbar mit verdeckter Kirchenkampfpolitik, simplen Geschäftsinteressen und populären Abscheu-Bezeugungen.

Die Ereignisse, um die es geht, liegen Jahrzehnte zurück, sind nicht dokumentiert und basieren auf bloßem Hörensagen und diffusen Erinnerungen. Der juristische Ertrag der Affären, also die Möglichkeit, dem Gesetz Wirkung zu verschaffen und Gerechtigkeit herzustellen, ist gleich Null. Bei den meisten der annoncierten Vorkommnisse ist nicht einmal klar, ob Richter zuständig wären. Öffentliche Einigkeit besteht lediglich darüber, daß den Opfern ein „frühkindliches Trauma“ zugefügt wurde, welches seither ihr ganzes weiteres Leben überschattet habe und an dem sie heute noch litten.

Trauma heißt seelische Verletzung, die man durch Verlust bzw. Gewalt erleidet. Kriegseinwirkungen, Naturkatastrophen, gewaltsamer Tod allernächster Angehöriger, Folter, Prügelorgien, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung – all dies verletzt nicht nur den Körper, sondern auch die Seele und kann in ihr zu langanhaltenden, manche sagen: zu unheilbaren, „posttraumatischen Störungen“ führen. Posttraumatiker werden – diversen medizinischen Befunden zufolge – von Angsträumen gepeinigt, kapseln sich von jeglicher Gemeinschaft ab, haben an nichts mehr wirkliche Freude.

Frühere Zeiten hatten für solcherlei Seelenzustände ein höchst eindrucksvolles Symbol: den „Hippocampus“, ein riesiges, zähnefletschendes Meeresungeheuer mit Pferdekopf und Fischschwanz, das auch auf den Strand springen konnte, um dort harmlose Passanten zu erschrecken und eventuell zu verschlingen. Wer als Posttraumatiker damals auffällig wurde, der hatte, wie es hieß, „dem Hippocampus ins Auge geschaut“. Man bemitleidete ihn oft, bewunderte ihn aber auch, besonders wenn er eindrucksvoll darüber zu singen und die Zuhörer zu fesseln verstand. Homer galt als der größte Traumatiker aller Zeiten.

Heute ist Hippocampus einerseits der lateinische Name für das harmlose Seepferdchen, andererseits bezeichnen die Hirnforscher damit das „limbische System“, einen der ältesten Bezirke des menschlichen Gehirns, der für tief eingewurzelte Gefühle und spontane, gleichsam naturwüchsige Antriebe zuständig ist. Über die Beziehungen zwischen dem Hippocampus und moderneren, „bewußteren“ Gehirnregionen ist zur Zeit noch sehr wenig bekannt. Entsprechend ungeklärt ist die Frage, ob Traumata effektiv beeinflußt werden können und, wenn ja, in welcher Form das geschehen müßte.

Gibt es überhaupt aussichtsreiche Therapien zur Heilung von Traumaopfern? Sind sie notwendig? Richten sie möglicherweise mehr Schaden als Nutzen an? Schließlich sind wir alle mehr oder weniger Traumaopfer, hatten erschreckende, tief in unsere Psyche einschneidende Urerlebnisse, die wir alle irgendwie „verarbeiten“, die wir meistern und in unsere Vita einordnen müssen. „Das Trauma“, schrieb der Psychosomatiker Viktor von Weizsäcker, „ist nur ein anderer Name für Schicksal. Wir nehmen es hin oder begehren dagegen auf. Aus der Welt schaffen können wir es nicht.“

Einig sind sich die Psychologen darüber, daß man über Traumata sprechen, sie scharf ins Auge fassen und präzise erinnern sollte. Dem Hippocampus müssen die Zähne gezogen werden, was nur möglich ist, indem man ihn mittels Sprache in Laborräume überführt, wo gut konstruierte Gerätschaften für Diagnose und aussichtsreiche Therapie zur Verfügung stehen. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob man diese Überführung stets an die große Glocke hängen, sie von den Medien begleiten lassen sollte, auch dann, wenn gar kein Kriminalfall vorliegt, welcher notwendig Justiz und Öffentlichkeit erheischt.

Sicher sind Traumaopfer keine Patienten im strengen medizinischen Sinne. Dennoch erfordern viele Fälle – schon im Interesse eines gediegenen sozialen Zusammenlebens – Diskretion und strenge Zurückhaltung, gerade wenn es sich um sexuelle Traumata handelt. Nicht zufällig hat die vor gut hundert Jahren aufkommende Psychoanalyse ihre berühmten Diwangespräche von Anfang an strikt unter das Gebot ärztlicher Schweigepflicht gestellt. Man wollte Voyeurs und geile Zeitungsjungen von vornherein vor der Tür halten.

Was nun heute im Zusammenhang mit den bekannt gewordenen Mißbrauchsfällen geschieht, ist, wie jeder sieht, genau das Gegenteil von Diskretion: ein brüllender Kessel voller Gerüchtemacherei und Scheinheiligkeit, der das (doch schon längst überfüllte) Maß von „Medienpräsenz“ weit überschreitet. Was wir gegenwärtig erleben, ist gewissermaßen Medialität pur: Alle wissen: Kein Staatsanwalt wird ein Verfahren eröffnen, und auf altkonservative Sittenwächter hört sowieso niemand mehr. Trotzdem überschreit man sich mit gespieltem Entsetzen, allen voran so manches Opfer – was wohl das Deprimierendste daran ist.

Diese Opfer sind durch die Bank in hohen Semesterlagen, viele schon pensioniert. Sie haben ihr Leben gelebt, sich mit ihrem Trauma arrangiert, es vielleicht sogar bewältigt. Aber jetzt sehen sie plötzlich willkommene Gelegenheit, einmal positiv in die Medien zu kommen. Ein Homer will zwar niemand werden, doch es geht um Geld, viel Geld, „Schmerzensgeld“, „Entschädigung“ für verlorene Lebenschancen. Schon sind – nach amerikanischem Vorbild – die ersten Anwälte engagiert, um Sammelklagen gegen Jesuiten, Chorleiter und Reformpädagogen vorzubereiten.

Niemand sollte freilich darauf hoffen, daß durch das Treiben eine allgemeine Rückbesinnung auf bewährte Sittenstandards und sexuelle Anständigkeit geschieht. Man hat den Hippocampus keineswegs besiegt, man hat sich nur zu seinem Kumpel gemacht.

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