© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Dreck am Stecken
Identitätsstörung: „Perlensamt“ seziert Selbsthaß und Schuldstolz
Martin Lichtmesz

Das Dogma der Erbsünde ist heute ebenso abgeschafft, wie die Ableitung kollektiver Identitäten aus der genetischen Abstammung als „biologistisch“ oder gar „rassistisch“ verpönt ist. Dennoch kommt es vor, daß ein bundesdeutscher Integrationsminister, nämlich Armin Laschet (CDU) aus Nordrhein-Westfalen, in Interviews Sätze wie die folgenden zum besten gibt: „Die Kinder sind qua Geburt deutsche Staatsbürger, und man muß ihnen klarmachen: Das ist was anderes, als wenn du Franzose oder Brite bist“, und daraus folgert: „Der Holocaust ist unsere gemeinsame Leitkultur“ – wobei das Wörtchen „gemeinsam“ vielleicht an die Adresse der Interviewer von der Jüdischen Zeitung gerichtet war. Der Holocaust ist die Kette, die Deutsche und Juden Rücken an Rücken, also seitenverkehrt aneinanderbindet, und im Rahmen der Dialektik von „Tätern“ und „Opfern“, möchte natürlich jeder lieber dem „Opferadel“ angehören, der seine Privilegierten, ja seinen Klerus und seine Heiligen hervorgebracht hat.

Diese auratisch aufgeladene Zone zieht entsühnungsbesessene Deutsche wie die Publizistin Lea Rosh oder zelotische Konvertiten wie den Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, ebenso an wie internationale Hochstapler und Neurotiker wie den Schweizer Benjamin Wilkomirski alias Bruno Dösseker, die Amerikanerin Lauren Stratford oder die Belgierin Mischa Defonseca, die eine falsche Identität als Holocaust-Überlebende annahmen. Wer will dagegen ein Kind von Nationalsozialisten sein? Görings Großnichte und Großneffe ließen sich sterilisieren – aus Angst, „noch so ein Monster hervorbringen“ –, während „Tätersöhne“ wie Niklas Frank und Thomas Harlan zu zwanghaften Berufsbewältigern wurden.

An letzteren zeigt sich allerdings, daß auch über die Täterkindschaft ein Weg in die Elite des „Betroffenheitsadels“ führt. Dieser treffende Begriff stammt aus dem jüngsten Roman „Perlensamt“ der 1957 in Köln geborenen, heute in Berlin lebenden Schriftstellerin Barbara Bongartz. Der Schatten einer Pistole in einem Bilderrahmen auf dem Bucheinband legt zunächst die trügerische Fährte eines Krimis im Kunstmarktmilieu. Die Handlung beginnt, als der amerikanische Kunsthistoriker und „Provenienzforscher“ Martin Saunders in Berlin den exzentrischen David Perlensamt kennenlernt, einen offenbar dilettierenden Künstler mit gescheiterter Schauspielkarriere, Erbe eines beträchtlichen Vermögens und Besitzer einer stupenden Gemäldesammlung. Kurz darauf wird Perlensamts Mutter ermordet, sein Vater angeschossen ins Krankenhaus eingeliefert, während am Kunstmarkt ein Courbet auftaucht, den Saunders eben noch im Hause Perlensamt an der Wand hängen sah.

Saunders, getrieben von einem vage homoerotischen Interesse an Perlensamt, erfährt schließlich von diesem, daß der jüdisch anmutende Familienname nur zur Mimikry dient, um eine anrüchige Herkunft zu verbergen: Perlensamt sei in Wirklichkeit der Enkel des deutschen Botschafters in Paris, Otto Abetz, der während der Besatzungszeit seine Position zu Kunstraubzügen im größeren Stil ausnutzte. Die Kunstsammlung, die kurz nach einem frühen Besuch Saunders bei Perlensamt wie von Geisterhand wieder von den Wänden verschwand, ist nichts anderes als NS-Beutegut im Millionenwert, eine jahrzehntelang gehütete Schuld. David schildert Saunders ein traumatisches Erlebnis, als während seiner Schulzeit ein rachsüchtiger jüdisch-elsässischer Lehrer, ein Opfer Abetz’, vor der Klasse seine – ihm selbst bisher unbekannte – Identität enttarnte. Seither scheinen ihn Selbsthaß und Scham über seine eigene „unreine Provenienz“ zu zerfressen.

Doch allmählich entdeckt Saunders Ungereimtheiten in Perlensamts Erzählung. Widersprüchliche Dokumente tauchen auf, und eine Familienangehörige wartet mit einer gänzlich abweichenden Version des Familienromans auf. Hat Perlensamt die Verwandtschaft mit Otto Abetz nur erfunden? Sind die geheimnisvollen Gemälde überhaupt echt? Bald tritt Perlensamt in Talkshows als reumütiger Vorzeige-„Täterenkel“ auf, mit der erklärten Absicht, die geraubten Bilder wieder zurückzugeben. „Dabeisein ist alles“, wird der Auftritt kommentiert, „und wenn Dabeisein nur durch Betroffenheit entsteht.“

Perlensamts Identitätsstörung wirkt auch auf Saunders’ eigenes Selbstverständnis zurück: Aufgewachsen in New York als unehelicher Sohn einer deutschen Mutter, die dem Land mit dem „Dreck am Stecken“, ja dem Deutschsein schlechthin durch Emigration zu entfliehen versuchte, müßte er doch kein schlechtes Gewissen wegen seiner „Provenienz“ haben. Doch die Blutsbande, so irrational sie sein mögen, verknüpfen das eigene Ich mit der Geschichte und ihrer Last mit einer schier unausweichlichen Gravitationskraft. Muß ein Amerikaner Schuldgefühle haben, wenn er deutscher Abstammung ist? Muß er sie haben, wenn er an den Vietnamkrieg denkt und andere historische Ereignisse, die auf seiner Nation lasten?

Der Epilog des Buches mündet in den 11. September 2001, in dem sich ein rächendes Karma der Geschichte erfüllen mag oder auch nicht, auf den zugleich der 44. Geburtstag der zwischenzeitlichen Wahl-New-Yorkerin Barbara Bongartz, geborene Liebig, fiel – nach eigener Auskunft „uneheliches Kind einer deutschen Mutter aus Berlin und eines französischen Vaters sephardischer Abstammung“. „Perlensamt“ ist ein kompliziertes Familien-Melodrama, dem das Drama und die grellen Farben entzogen wurden, eine Kriminalgeschichte, in der die Konventionen des Genres nur beiläufig mitschwingen – vor allem aber, wie Götz Kubitschek in der Sezession bemerkte, „ein Schlüsselroman des deutschen Schuldstolzes um die Jahrtausendwende, und zwar ein sehr gelungener“.

Barbara Bongartz: Perlensamt. Weissbooks, 2009, gebunden, 320 Seiten, 19,90 Euro

Am 26. März liest Barbara Bongartz im neu eröffneten Museum Folkwang in Essen aus ihrem Roman „Perlensamt“. Beginn: 19 Uhr. Am 4. April ist sie zwischen 13.30 und 15 Uhr im Deutschlandradio zu hören.

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