© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Potzblitz und Stumpfsinn!
Heulsuse: Martin Walser contra Marcel Reich-Ranicki
Doris Neujahr

Eines der letzten Kapitel in Thomas Manns „Zauberberg“ ist überschrieben: „Der große Stumpfsinn“. Wie passend zur Gegenwart! Wir erleben eine Finanz- und Euro-Krise, die das Selbstverständnis der Bundesrepublik mehr durchrüttelt als die Wiedervereinigung. Die Europa-Lyrik als nationale Ersatzidentität stellt sich als Phrase heraus. Was hat uns der Kultur- und Literaturbetrieb dazu zu sagen? Nichts, er läuft leer. Er arbeitet sich an der Jungautorin Helene Hegemann ab, als handle es sich um eine neue Sagan oder einen weiblichen Bret Easton Ellis. Pech, sie ist eine Plagiatorin (JF 8/10).

Nun wird die Veröffentlichung der Tagebücher von Martin Walser zum Anlaß genommen, um einen über 30 Jahre alten Streit zwischen ihm und Marcel Reich-Ranicki auszugraben und breitzutreten. Die wievielte Runde zwischen den beiden ist das jetzt? Man kann es nicht mehr hören, denn es geht uns nichts mehr an.

In Grund und Boden rezensiert

Die Tragödie in Kurzfassung: Martin Walser hatte 1976 einen Bucherfolg gebraucht. Er war in finanziellen Schwierigkeiten, wußte nicht, ob er sein Haus mit Bodenseeblick würde behalten können. Was tat Reich-Ranicki? Er rezensierte Walsers damals aktuellen Roman „Jenseits der Liebe“ in Grund und Boden. Mein Gott, nicht jedes Buch von Walser ist Büchnerpreis-würdig. Ja, gewiß, die Macht Reich-Ranickis ist aufreizend und hybrid, er besitzt ein unangenehmes Sendungsbewußtsein, doch das folgende Walser-Buch, „Ein fliehendes Pferd“, hat er um so höher gelobt, und der Dichter konnte sein Haus behalten.

Nicht einmal Frank Schirrmachers perfider Versuch, Walser wegen der Reich-Ranicki-Karikatur im „Tod eines Kritikers“ 2002 als Antisemiten hinzustellen, hat funktioniert. Im Gegenteil, das FAZ-Feuilleton, das von Jahr zu Jahr an Niveau und an Einfluß verliert, mußte vor ihm zu Kreuze kriechen und druckt seine Texte längst wieder ab – und das sicher nicht zu Walsers Schaden. Nein, die ganze Debatte ist derart selbstreferentiell und irrelevant, daß sich die Ahnung aufdrängt, daß es nur eine winzige Verschiebung der historischen Perspektive braucht, damit ein erstauntes Publikum feststellt, daß von der deutschen Nachkriegsliteratur, dem Literaturbetrieb und seinen Debatten gar nicht soviel übrigbleiben wird.

Das letzte Kapitel des „Zauberbergs“ heißt: „Der Donnerschlag“. Den wünscht man auch dem deutschen Literaturbetrieb. Aber vorher möge einige Dichter- und Redakteursschreibtische der Blitz treffen!

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