© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Die Nacht ist des Freien Freund
Barbara Beuys refl ektiert ohne zivilgesellschaftliche Beckmesserei das Leben Sophie Scholls und der „Weißen Rose”
Thorsten Hinz

So viel Widerstand und Zivilcourage unter Berufung auf die Geschwister Scholl war noch nie. Im Februar erst versicherten die Teilnehmer einer offiziösen Kundgebung in Dresden sich ihrer Großartigkeit, indem sie das Widerstandssymbol der Weißen Rose vereinnahmten. Die dort demonstrierte Überzeugungsstärke war freilich nur eine geliehene. Ihre wichtigste Quelle war das Bewußtsein, in der Staatsmacht den unwiderlegbaren Bündnispartner zu besitzen.

Bei den Scholls dagegen erwuchs der Mut für ihre Flugblattaktionen, mit denen sie 1942/43 den Sturz des NS-Regimes einleiten wollten, aus ihnen selbst und ihrem Glauben. Die politischen Realitäten, die Machtverhältnisse und die Psychologie der Massen, für die sie zu sprechen glaubten, schätzten sie allerdings falsch ein. Es liegt eine tragische, andererseits auch hoffnungsvolle Dialektik darin, daß gerade dieses Verkennen sie zu einem Handeln befähigte, das weit über die dunkle Zeit hinausragte. Barbara Beuys, die Autorin der neuen Biographie über Sophie Scholl, erinnert daran, daß für ihre Protagonistin der Geist, der in einer Handlung sichtbar wurde, wichtiger war als das praktische Ergebnis. Das ist im Sinne Theodor Storms: „Der eine fragt: Was kommt danach? / Der andre fragt nur: Ist es recht? / Und also unterscheidet sich / Der Freie von dem Knecht.“ Sophie Scholl und ihre Freunde waren freie Menschen und noch da, wo sie sich irrten, keine Mitläufer.

In der Bundesrepublik leitete Inge Aicher-Scholl, die ältere Schwester der Hingerichteten, 1952 die Rezeption der Münchner Widerstandsgruppe mit dem Gedenkbuch „Die Weiße Rose“ ein. In der DDR hatte sie schon ein Jahr früher begonnen, mit Stephan Hermlins Essayband „Die erste Reihe“, der auch einen Aufsatz über die „Weiße Rose“ enthält. Sophie Scholls Bruder Hans erscheint darin als „ein schöner deutscher Jüngling, wie ihn Schwind gemalt hat, mit den Zügen eines Erzengels und dem schwärmerischen Blick, der sich nach oben kehrt. Inmitten einer deutschen Umwelt, die unter den von Hitler angegriffenen und bedrohten Völkern Abscheu und Haß verbreiteten, zeigt Hans Scholl diesen Völkern das Gesicht des Deutschen, wie es in Sagen und Überlieferungen nur noch traumhaft weiterlebt: das Antlitz des Treuherzigen, des Rechtlichen, des wahrhaft Tapferen.“ Hermlin hatte die Verhörprotokolle, die sich im Besitz der DDR-Behörden befanden, einsehen dürfen. Erst nach 1989 wurden sie veröffentlicht, denn die SED hatte sofort begriffen, daß der Geist der Scholls geeignet war, ihren eigenen Machtanspruch zu bedrohen.

Die Mischung aus Weltdistanz und weltlichem Bekennermut, vor sechzig Jahren noch als Essenz eines verlorenen Deutschtums betrauert, bringt längst den Furor kleinlicher Dekonstruktivisten zum Rasen. Jüngstes Beispiel ist die Dissertation „Die ‘Weiße Rose’ war erst der Anfang“ von Sönke Zankel aus dem Jahr 2006. Erklärtes Ziel des Autors war es, die Scholls zu „Menschen zu machen, die Fehler hatten und letztlich nichts Unerreichbares geleistet haben“. Aus der Tatsache, daß Hans Scholl seine Schwester anfangs nicht in die Flugblattaktionen einweihen wollte, wird die Erkenntnis gezogen, „wie sehr die Studenten in geschlechtsspezifisch-zeitgenössischen Denkmustern verhaftet waren“. Das Ressentiment, das sich bei Zankel Bahn bricht, kommt aus dem Gefühl, daß den Scholls die bundesrepublikanischen Denkmuster weniger selbstverständlich gewesen wären als ihm selbst. Gegen wen oder was spricht das nun? Gegen die Scholls? Gegen Zankel? Gar gegen die Bundesrepublik?

Die Sophie-Scholl-Biographie von Barbara Beuys rückt solche Verzerrungen zurecht. Beuys konnte sich auf das riesige Konvolut stützen, das die verstorbene Inge Aicher-Scholl über die „Weiße Rose“ zusammengetragen und dem Münchner Institut für Zeitgeschichte übergeben hat. Es waren insgesamt fünf Geschwister. Bekanntermaßen waren die Eltern klar gegen Hitler eingestellt und lagen im Konflikt mit ihren Kindern, die der bündischen Jugendbewegung angehörten, sich seit 1933 aber von der NS-Bewegung angezogen fühlten.

Schließlich stimmten sie ihrem Eintritt in die Hitlerjugend bzw. dem BDM zu, wo sie schnell in der Hierarchie aufstiegen. Sophie Scholl war eben nicht – oder nicht nur – das swingtanzende Mädchen, als das sie in Marc Rothemunds Film „Die letzten Tage“ erscheint. Noch 1941, als sie das NS-Regime aus tiefstem Herzen haßt, nahm sie an Heimabenden des BDM teil. Barbara Beuys fast ungläubig: „Es war eine facettenreiche, vieldimensionale Zeit, in der Gegensätzliches (...) sich reibungslos verknüpfte.“ Man spürt, daß die Autorin eine für sie neue Welt betritt, und es spricht für sie, daß sie es ohne Beckmesserei tut. Sie arbeitet heraus, daß es sich bei der NS-Bewegung auch um eine Jugendrevolte handelte. Die Vision einer Volksgemeinschaft weckte Begeisterung, weil sie soziale Gerechtigkeit zu versprechen schien. Der Nationalsozialismus bezog seine Kraft nicht aus dem Appell an das Böse, sondern weil er vordergründig an das Edle appellierte.

Wann kam für Sophie Scholl der große Einschnitt? Die verblüffende Antwort lautet, daß es ihn gar nicht gab. Die kurzzeitige Inhaftierung der älteren Geschwister Ende 1937 wegen „bündischer Umtriebe“ und – bei Hans – wegen Vergehens nach Paragraph 175 empörte sie natürlich, aber noch im Gestapo-Verhör im Februar 1943 bestand sie darauf, ihr Ausscheiden als BDM-Führerin habe nur verbandsinterne, keine politischen Gründe gehabt. Das November-Pogrom 1938 kommt in ihren Aufzeichnungen nicht vor. In dieser Zeit hat sie Schmetterlinge im Bauch, ist verliebt in den jungen Offizier Fritz Hartnagel, der im Januar 1943 mit einem der letzten Flugzeuge aus dem Stalingrader Kessel entkommt. Manche Leser werden überrascht feststellen, daß auch damals die Menschen über ein Privatleben verfügten und das Private das Politische oft überwog.

Anstöße zur Abkehr gaben der Kriegsausbruch und die Sorge um den Freund und die Brüder. Schließlich ließ die immer brutalere Wirklichkeit des Regimes sich nicht mehr mit ihrer christlichen Erziehung, ihrer Individualität, dem verinnerlichten Bildungsgut vereinbaren. Als die Scholls von den Massenverbrechen im Osten erfahren, entkoppeln sich die äußere und die innere, die Tag- und die Nachtseite ihrer Existenz. 1941 reden sie darüber, ob man in der Dunkelheit Parolen an die Mauern malen solle, denn, so Sophie Scholl: „Die Nacht ist des Freien Freund.“

Im Gestapo-Verhör nach ihrer Verhaftung am 18. Februar 1943 in der Münchner Universität erklärte sie klipp und klar, „daß nach meiner Auffassung die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise eingeschränkt wird, die meinem inneren Wesen widerspricht. Zusammenfassend möchte ich die Erklärung abgeben, daß ich für meine Person mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben will.“ Sie, ihr Bruder und ihre Freunde hatten keineswegs vor, den Märtyrertod zu sterben, doch als er ihr unausweichliches Schicksal wurde, nahmen sie ihn mit großer Gefaßtheit an. Wie viele von denen, die sie im Munde führen oder sie zu bekritteln wagen, werden diese Höhe wohl erreichen?

Barbara Beuys ist – trotz mancher Längen und Schwächen – ein intimes und bewegendes Buch über eine große Frau gelungen.

Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biographie. Hanser Verlag, München 2010, gebunden, 496 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

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