© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Für einen zeitgemäßen Islam
Zwischen Traditionalisten und Säkularen: Lamya Kaddor will den Islam ins 21. Jahrhundert führen
Gerhard Vierfuss

Als vor zwei Jahren unter dem Titel „Der Koran für Kinder und Erwachsene“, herausgegeben von Lamya Kaddor und Rabeya Müller, erstmals eine leicht verständliche, thematisch gegliederte und kommentierte Leseausgabe der zentralen Abschnitte des Korans erschien, blieb nach aller Bewunderung für dieses in jeder Hinsicht – formal wie inhaltlich – überaus gelungene Werk und für den Mut der Herausgeberinnen zu ihrem in mehrfacher Hinsicht tabuverletzenden Unternehmen eine zweifelnde Frage bestehen: Wo bleibt in dem hier skizzierten erhabenen Bau einer Religion der Toleranz, der Liebe und der Barmherzigkeit all der Haß, die Gewalt und die Unterdrückung, die eben auch Ausdruck im Koran finden?

Erwartungsvoll nimmt man daher die neueste Veröffentlichung von Lamya Kaddor „Muslimisch – weiblich – deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam“ in die Hand. Die Autorin, 1978 als Tochter syrischer Einwanderer im Westfälischen geboren, berichtet darin von ihren Erfahrungen als gläubige Muslimin, als Islamwissenschaftlerin und als Religionspädagogin in Deutschland. Vor allem aber legt sie in diesem Buch dar, wie sie sich einen modernen, liberalen Islam für das 21. Jahrhundert vorstellt. Und dabei weicht sie der alles entscheidenden, der Gretchenfrage zum Verständnis des Islams nicht aus: Wie hältst du’s mit der historischen Auslegungsmethode?

Kaddors Antwort ist eindeutig: Eine angemessene Koranexegese müsse differenzieren zwischen jenen Glaubenssätzen, die ewige Gültigkeit beanspruchen könnten, und solchen Regelungen, die nur in ihrem historischen Kontext einen Sinn gehabt hätten. Zu diesen inzwischen obsolet gewordenen Vorschriften zählt die Autorin etwa die Aufrufe zur Gewalt gegen Andersgläubige und Teile des Eherechts. Zweifellos liegt an dieser Stelle das Kernproblem für jeden Versuch einer islamischen Reformation: Denn für einen gläubigen Muslim ist der Koran eine (im arabischen Original) wortwörtliche Verlautbarung Gottes. Wie aber kann eine Offenbarung des Ewigen der Zeit unterliegen?

Ein eigenes Kapitel widmet Kaddor der „K-Frage“ – dem Thema Kopftuch also. Ausführlich zitiert und interpretiert sie darin die maßgeblichen Koranverse und begründet überzeugend ihren Standpunkt, daß sich aus ihnen kein striktes Gebot zur Verhüllung des Haars für die heutige Zeit ableiten läßt (bereits auf dem Buchumschlag ist sie mit offen getragenem Haar abgebildet) – ohne jedoch anderen Musliminnen die Freiheit abzusprechen, die Verse auf traditionelle Weise zu interpretieren. Überhaupt ist es ein Hauptanliegen der Autorin, in guter aufklärerischer Tradition die Muslime zum Selbstdenken zu bewegen, dazu, alte Dogmen in Frage zu stellen, nicht länger blind ihren Imamen, Hodschas oder Gelehrten zu folgen.

Daß es sich bei all dem nicht bloß um graue Theorie handelt, zeigt die praktische Arbeit von Lamya Kaddor: Seit acht Jahren erteilt sie für den nord­rhein-westfälischen Schulversuch in in einem Dinslakener Stadtteil mit hohem Zuwandereranteil muslimischen Grund- und Hauptschülern islamischen Religionskundeunterricht in deutscher Sprache. Ihre Schilderungen des Bewußtseinswandels, den ein kontinuierlicher, auf Wissensvermittlung zielender Unterricht bei jugendlichen Muslimen bewirken kann, sind eindrucksvoll. Ihren Niederschlag fanden diese Erfahrungen 2008 in dem von Kaddor mitherausgegebenen ersten deutschen Schulbuch für den islamischen Religionskundeunterricht „Saphir“.

Kaddor sieht sich selbst in einer Position zwischen den Vertretern eines dogmatisch-konservativen Islams und den säkularen Islamkritikern. Deren Anwürfe weist sie nicht grundsätzlich zurück; sie verwahrt sich aber dagegen, Mißstände wie die Diskriminierung der Frau oder den unter Muslimen verbreiteten Antijudaismus monokausal auf die Religion zurückzuführen. Auf der anderen Seite geht sie in ihren Forderungen an die deutschen Muslime teilweise deutlich über das hinaus, was ein deutscher Politiker zu sagen wagte: Wer die hiesige Kultur nicht akzeptieren könne, müsse den Weg zurück gehen. Und zum Thema Moscheebau merkt sie an: Kuppelbauten im osmanischen Baustil seien hier fehl am Platz.

In ihrer Kritik an der deutschen Mehrheitsgesellschaft vermag Kaddor nicht durchweg zu überzeugen: so etwa, wenn sie bemängelt, daß in der Öffentlichkeit stets von „dem Islam“ geredet werde, anstatt daß die muslimische Vielfalt wahrgenommen würde – während sie dann später ihre eigene Wahrnehmung der „islamischen Aufstellung“ als die eines geschlossenen Blocks beschreibt. Doch mindert dies den Wert des Buches nur unwesentlich. Das zukünftige gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland wird ganz entscheidend davon abhängen, ob und in welchem Maß Stimmen wie die von Lamya Kaddor Gehör finden werden. Ihren Veröffentlichungen ist größtmögliche Verbreitung zu wünschen.

Lamya Kaddor: Muslimisch – weiblich – deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam. Verlag C.H. Beck, München 2010, gebunden, 206 Seiten, 17,90 Euro

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