© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Vorgetäuschte Nähe
Viel Spekulation und keine neuen Erkenntnisse: Auch Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich scheitern mit ihrem Versuch einer Kohl-Biographie
Jakob Apfelböck

Den drei Ex-Bundeskanzlern unseres Landes, die noch unter den Lebenden weilen, ist in der öffentlichen Wahrnehmung ihre jeweilige Rolle klar zugewiesen. Gerhard Schröder gilt auch über eine Legislaturperiode nach Beendigung seiner Amtszeit als selbstgefälliger Luftikus ohne Grundsätze, dessen Stimme nichts zählt und der sich folgerichtig mit Wortmeldungen sehr zurückhält. Wer ihn als Lobbyisten auf der Gehaltsliste hält, kann über die wahren Verhältnisse in unserer Republik nicht sonderlich gut informiert sein. Helmut Schmidt hingegen ist als nunmehr 28 Jahre außer Diensten stehender Greis omnipräsent und hochgeschätzt. In der Zeit seiner Kanzlerschaft zwar als Weltökonom und außenpolitischer Strippenzieher geachtet, aufgrund seiner zynischen Kälte jedoch eher unbeliebt, verkündet er nun aus über allen Parteiungen thronender, quasi präsidialer Warte simple, aber pointiert vorgetragene Weisheiten, die zu beherzigen er nur zu oft nicht imstande war, als er noch die Richtlinien der westdeutschen Politik bestimmte.

Ein beschädigtes Denkmal mit Patina ist hingegen Helmut Kohl. Sein Platz in den Geschichtsbüchern als „Kanzler der deutschen Einheit“ ist zwar auch angesichts seiner skandalträchtigen Verwicklung in gesetzesferne Finanzierungspraktiken der CDU nie in Frage gestellt worden. Als moralische Autorität mag ihn seit deren Bekanntwerden aber niemand so recht akzeptieren. Die in den Medien der achtziger und neunziger Jahre überwiegenden Zweifel an seinem politischen Format haben die Bürger zwar nicht davon abhalten können, ihn in vier Bundestagswahlen als Kanzler zu bestätigen. Nach seinem Abgang stand dieser Geringschätzung aber nicht länger das Gegengewicht seiner praktischen Regierungsführung gegenüber, so daß sie die Oberhand gewonnen hat. Von der Bild-Zeitung abgesehen, wird Helmut Kohl in Deutschland als „Elder Statesman“ nicht ernst genommen. Es gibt kaum ein Thema der heutigen Politik, zu dem seine Meinung interessieren würde. Er ist ein Mann von gestern, das letzte Relikt der Bonner Republik, deren einstmals als alarmierend betrachtete Probleme man sich heute manchmal zurückwünschen könnte.

Für seine Historisierung hat Helmut Kohl selbst eine üppige Quellenlage geschaffen. Die bisher erschienenen, bis in das Jahr 1994 reichenden drei Bände seiner Autobiographie umfassen knapp 2.500 Seiten und stellen damit die „Gedanken und Erinnerungen“, die Bismarck als Kanzler der Einheit des 19. Jahrhunderts zu Papier brachte, zumindest in quantitativer Hinsicht in den Schatten. So fragwürdig und geschönt manche seiner Darstellungen auch bereits einem Leser erscheinen mögen, der sich des Textes bloß als aufmerksamer Zeitzeuge und bar des kritischen Instrumentariums eines Historikers annimmt, so nachhaltig ist durch ihn die wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung mit dem Rekordkanzler der Bundesrepublik vorgeprägt.

Auch Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich, die als ehemalige Spiegel-Redakteure nicht im Verdacht stehen, Helmut Kohl einen apologetischen Dienst erweisen zu wollen, bringen so nicht mehr als eine Paraphrasierung seiner Autobiographie zustande. Diesem Dilemma sind sie um so mehr unterworfen, als sie es sich als ausgewiesene Vollblutjournalisten schuldig zu sein meinen, ein lebendiges Bild der zum Thema erkorenen Persönlichkeit zu zeichnen und dabei die Motive und Hintergründe ihres Handelns herauszuarbeiten.

Das Resultat ist ein souverän formuliertes und komponiertes Sachbuch, das den Leser von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln vermag, hinsichtlich der Verläßlichkeit seiner Aussagen aber Unbehagen hinterläßt. Die Autoren spiegeln eine Empathie und eine Kenntnis der wahren Absichten und Beweggründe Helmut Kohls vor, die ihnen nicht zuzuerkennen ist. Tatsächlich übernehmen sie dessen Selbstzeugnisse unkritisch, wo sie ihre Sicht der Dinge zu bestätigen scheinen, und mischen diese in einer für den Leser nur bedingt auseinanderzuhaltenden Weise mit eigenen Mutmaßungen, die nicht frei von der penetranten Spiegel-Attitüde sind, aufgrund des beständigen Blicks hinter die Kulissen über vermeintliches Insiderwissen zu verfügen.

Der Versuch, schriftstellerisch in die Haut von Helmut Kohl zu schlüpfen, verengt zudem den Blick auf Ereignisse, in die er unmittelbar involviert war. Seine Einordnung in die politischen Zusammenhänge, in denen er wirkte, und dies war nun einmal spätestens ab 1972 die Bundespolitik, erfolgt nur rudimentär. Über dem filigranen Nachzeichnen von Ränken, die er selber schmiedete oder die gegen ihn gerichtet waren, gehen die Politikfelder, auf denen er als Oppositionsführer oder als Regierungschef etwas bewegte, nahezu unter. Die 16 Jahre seiner Kanzlerschaft reduzieren sich so auf den Prozeß der Wiedervereinigung und ein Sammelsurium von Schlaglichtern, deren Auswahlkriterium die zeitgenössische Ereiferung der Medien gewesen zu sein scheint.

Hier geben Noack und Bickerich nicht selten als ausgewogene und gesicherte Erkenntnis aus, was letztlich eine einseitig zugespitzte Position im Meinungskampf von einst war und einer nachträglichen Prüfung im Abstand so vieler Jahre kaum standhält. Allerdings räumen sie ein, daß die herablassende Manier, mit der Kohl spätestens ab 1982 als plumper und in Bonn völlig deplazierter Provinzler abgekanzelt wurde, ein Zerrbild erzeugte. Ihm sei mitnichten politisches Format abzusprechen und man könne keineswegs behaupten, seine Regierung sei lediglich durch pragmatisches Durchwursteln gekennzeichnet und frei von Grundsätzen gewesen. Besonderes Lob ob seiner Weitsicht sprechen ihm die Autoren für sein Engagement für eine forcierte europäische Integration aus. Insbesondere hier ist aber unverkennbar, daß sie eher darum ringen, selbst mit Kohl ins reine zu kommen, als dem Leser erhellende oder gar neue Einsichten zu bieten. Eine Auseinandersetzung mit dem „Enkel Adenauers“, die dem von ihnen erhobenen Anspruch gerecht würde, „die“ Biographie zu sein, ist weiter ungeschrieben.

Hans-Joachim Noack, Wolfram Bickerich: Helmut Kohl. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Berlin 2010, gebunden, 304 Seiten, 19,95 Euro  

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