© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Braver Michel? Von wegen
Alain Felkel rückt das Bild zurecht und weist mit seinem populärwissenschaftlichen Kompendium auf das „rebellische Volk“ der Deutschen hin
Detlef Kühn

Alain Felkel hat sich ein hehres Ziel gesetzt: Er möchte die Deutschen in Schutz nehmen gegen den Vorwurf, sie seien immer brav und angepaßt gewesen, hätten nur selten für ihre Rechte gekämpft. Das Ziel ist löblich. Sonst hört man leider zu oft, die ganze deutsche Geschichte sei zielstrebig auf Auschwitz zugelaufen. Die Deutschen hätten das Morden einfach in den Genen (Goldhagen). Da ist jede Entlastung grundsätzlich willkommen, auch wenn bislang nur historische Naivlinge Gefahr liefen, die Karikatur des „deutschen Michel“ als historische Wahrheit zu betrachten.

Um seine These zu belegen, die Deutschen seien in Wahrheit immer ein Volk von Rebellen und Revolutionären gewesen, hat Felkel aus zweitausend Jahren deutscher Geschichte elf mehr oder weniger bekannte Ereignisse ausgewählt. Zu den weniger bekannten zählt der Aufstand des Vinzenz Fettmilch und seiner Gefolgsleute in Frankfurt/Main 1612 bis 1614 gegen den als korrupt empfundenen Rat und die angeblich wuchernden Juden. Fettmilch büßte dafür mit grausamer Hinrichtung. Unruhen und Aufstände gegen die sich selbst in der Ratsherrschaft ergänzenden Patrizierfamilien in den Städten hat es allerdings nicht selten gegeben. Relativ unbekannt ist auch der Volksaufstand in Bayern in den Jahren 1705/06 im Anschluß an den Spanischen Erbfolgekrieg, der sich gegen die Ausbeutung des Landes durch die kaiserliche Macht in Wien richtete.

Weithin bekannt sind dagegen die übrigen Ereignisse: die Hermannsschlacht im Jahre 9 n. Chr. gegen die drei römischen Legionen des Varus, der Widerstand des Sachsen-Herzogs Widukind 782 bis 785 gegen den Franken-Kaiser Karl den Großen, der Slawenaufstand in Ostelbien 983 gegen die deutschen Kolonisatoren aus dem Westen. Letzteres Ereignis verwundert auf den ersten Blick im Zusammenhang des Buches, ist aber doch insofern konsequent, als dem Aufstand fast 150 Jahre weiterer Selbständigkeit der Slawenstämme folgten und dann eine lange friedliche Phase des Nebeneinanders und der Assimilation durch die Eroberer.

Felkel hat eine Vorliebe für Ereignisse, die Massenbewegungen („Action“) hervorgebracht haben. Das verwundert nicht, wenn man aus dem Klappentext erfährt, daß der Historiker sonst Drehbücher schreibt und an Fernsehproduktionen mitwirkt. Dennoch muß man ihm zugestehen, daß er meist das historische Umfeld gründlich erhellt, wenn auch die geistigen Bewegungen der Zeit dabei oft zu kurz kommen. Das wird deutlich bei seiner Behandlung Thomas Müntzers und des Bauernkriegs 1525, in der Luther und die Reformation zwangsläufig zurücktreten müssen. Die Befreiungskriege gegen Napoleon und ihre Folgen, sicherlich auch „Massenbewegungen“, hätten unter diesen Umständen den Rahmen des Buches gesprengt und wurden gleich ganz weggelassen. Die Schilderung der 1848er Revolution konzentriert sich auf die Barrikadenkämpfe in Dresden ein Jahr später.

Mit dem Kapitel über das Ende des Ersten Welkriegs, die Revolte der Matrosen in Kiel und die Ereignisse, die zur Abdankung aller Fürsten in Deutschland führten, stößt der Autor ersichtlich an die Grenzen der historiographischen Möglichkeiten, die seiner Art der Darstellung gesetzt sind. Hier kann er nicht einmal alle Apekte der komplexen Situation auch nur antippen. Am Ende bleibt seine Freude darüber, daß das monarchische System kampflos wie ein Kartenhaus zusammenbrach und die Republik – gleich zweimal – ausgerufen wurde. Da war ja wohl noch einiges mehr ...

Erfreulich ist, daß Felkel im letzten Teil ausführlich den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und schließlich die friedliche Revolution in der DDR 1989 behandelt, die – im Gegensatz zu anderen von ihm geschilderten Ereignissen – mit der Wiedervereinigung zu einem vollen und schnellen Erfolg führte. Zu Recht stellt er heraus, daß es die Massen waren, die immer wieder die Rolle des Motors der Entwicklung übernahmen. Felkel hat ein Lesebuch vorgelegt, das geeignet ist, manche Lücken im Schulunterricht zu schließen und vor allem jungen Menschen wieder einen Zugang zu der Geschichte ihres Volkes zu ermöglichen, der durch die so häufige Konzentration auf die NS-Zeit leider oft verbaut wird.

Alain Felkel: Aufstand. Die Deutschen als rebellisches Volk. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2009, gebunden, 608 Seiten, 22,99 Euro

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