© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

„Den Mißbrauch legitimiert“
Steckt hinter den Mißbrauchsfällen mehr als nur die Täter? Welche Rolle spielen Ideologie und Sexualisierung?
Moritz Schwarz

Herr Trauernicht, Sexualisierung der Gesellschaft und Mißbrauch – ist das zu trennen?

Trauernicht: Nein, das ist nicht zu trennen. Da es das Problem des Mißbrauchs schon immer gibt, besteht die Gefahr, daß die derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die zu den vermehrten Mißbrauchsfällen geführt haben, unterschätzt werden. Zu schnell neigen wir dazu, die Gründe für diese Entwicklung auf die Natur zu schieben. Sicher ist es richtig, daß im Kern des Problems die Sexualität an sich steht, aber es ist durchaus von Bedeutung, ob eine Gesellschaft den Anspruch erhebt, daß der Mensch seine Sexualität beherrscht, oder ob sie dem Umstand Vorschub leistet, daß er von seiner Sexualität beherrscht wird. Und Letzteres scheint mir der Fall zu sein.

Also konkret, welche Verantwortung tragen jene, die unsere Gesellschaft sexualisiert haben?

Trauernicht: Es sind verschiedene gesellschaftliche Bewegungen, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben, das ist nicht an einzelnen Personen festzumachen. Und ich vermisse, daß diese Zusammenhänge – Ursprünge, Akteure, Folgen – bis heute nicht wirklich erforscht sind. Angesichts des Grades, den die Sexualisierung bereits erreicht hat – und zwar nach allgemeiner Ansicht, schauen Sie nur mal in die Feuilletons –, finde ich schon das bezeichnend.

Warum wird das nicht erforscht?

Trauernicht: Das frage ich mich natürlich auch. Zum einen haben die Akteure – also die Medien, die Sex-Industrie, die Werbewirtschaft, die einschlägigen ideologischen Lobbygruppen und die Politik, die alle maßgeblich die Weichen dafür gestellt haben –  wohl kein Interesse daran, sich der dann offenbar werdenden eigenen Verantwortung zu stellen. Zum anderen fehlt vielen überhaupt das Bewußtsein für diese Zusammenhänge: Den meisten Journalisten, Politikern und Wirtschaftsleuten ist wahrscheinlich nicht klar, welche Folgen die von ihnen protegierte oder zumindest mitgetragene Sexualisierung der Gesellschaft hat.

Sie nennen noch einen weiteren Grund: Es fehlen die Daten.

Trauernicht: Wir wissen, um das zu vergleichen, nicht nur viel zu wenig über das tatsächliche Ausmaß an sexuellem Mißbrauch in früheren Epochen der Geschichte, wir tappen sogar heute noch statistisch eher im dunkeln. Die Kriminalstatistik nennt zwar für Deutschland etwa 15.000 Fälle pro Jahr, doch die Dunkelziffer ist vermutlich zehnmal so hoch!

Woraus folgern Sie bei so unklarer Lage, daß die Gesellschaft eine maßgebliche Rolle spielt?

Trauernicht: Die Vorgänge an der Odenwaldschule zeigen zum Beispiel, wie Sexualisierung zur Legitimierung von sexuellem Mißbrauch führt. Die TV-Journalistin Amelie Fried, auch eines der Opfer an der Odenwaldschule, sprach unlängst in der FAZ ja selbst davon, „hier kam der Zeitgeist den ‘Pädagogen’ entgegen: Anfang der siebziger Jahre wurde bekanntlich die ‘sexuelle Befreiung’ ausgerufen“. Wenn der Augsburger Bischof Walter Mixa also darauf hinweist, daß „die sexuelle Revolution ... nicht unschuldig (daran) ist“, hat er sicherlich recht. Allerdings darf man das auch nicht verkürzen. Unser modernes Menschenbild, das dieser Sexualisierung Vorschub leistet, ist ja ein Produkt mehrerer geistiger Strömungen: Es enthält sowohl Elemente von Humanismus und Aufklärung, mit ihrer Idee, der Mensch sei das Maß aller Dinge, wie des Materialismus, nach dem die menschlichen Bedürfnisse ein unbeschränktes Recht auf konsumistische Befriedigung haben, des Evolutionismus, laut dem der Mensch im Grunde nur ein höheres Tier ist, das seinen Trieben ohne große Bedenken folgen darf und muß, sowie der postmodernen Kulturrevolution der sechziger Jahre mit ihrer sich revolutionär gebenden, hedonistischen sexuellen Permissivität. All dies hat Stück für Stück dazu beigetragen, daß sich die Auffassung von der Sexualität als Mittel eines angeblichen Individualismus, einer Jugendkultur und der „Spaßgesellschaft“ durchsetzen konnte.

Allerdings funktioniert das Konzept der Triebrepression, wie die Fälle im katholischen Milieu zeigen, offenbar auch nicht.

Trauernicht: Es besteht gar kein Zweifel, daß die Vorfälle an katholischen Einrichtungen ein Riesenskandal sind. Aber für die These, daß die Triebrepression der katholischen Kirche die Ursache für die Mißbrauchsfälle in ihrem Bereich sei, fehlt der Beweis. Als Leiter einer evangelischen Einrichtung wird es Sie nicht verwundern, daß ich dem Zölibat reserviert gegenüberstehe und der Meinung bin, dieses Gelübde sollte vom Vatikan ins Ermessen jedes einzelnen gestellt werden. Schließlich hat Gott uns als geschlechtliche Wesen geschaffen, und es gibt keinen Grund, warum Priester ehelos leben sollten. Ich sehe in den Vorfällen in der katholischen Kirche eher die ungesunden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in den Internaten. Sicher mag im einen oder anderen Fall der Zölibat Auslöser für den Übergriff gewesen sein, aber dies zur Hauptursache für alle katholischen Vorfälle zu erklären, hält einer Beweisführung nicht stand und geht am Kern des Problems vorbei.

Und der ist?

Trauernicht: Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs. Eine viel größere Problematik, die in der gegenwärtigen Diskussion oft unterschätzt wird, sehe ich ganz woanders: Sage und schreibe zwanzig Prozent der Frauen und erstaunlicherweise zehn Prozent der Männer heute haben laut Dunkelzifferschätzung in irgendeiner Art schon einmal Mißbrauchs­erfahrungen erleiden müssen. Das heißt, daß jede fünfte Frau betroffen ist und daß – entgegen der Vorstellung, Männer seien nur die Täter – jedes dritte Opfer männlich ist. Diese enorme Zahl geht aber wohl kaum auf das Konto der katholischen Kirche, insofern empfinde ich also die gegenwärtige Debatte als verkürzt. Das Positive an der Diskussion ist, daß das Thema Mißbrauch auf die Tagesordnung kommt. Negativ ist aber, daß hinter der Debatte um Klosterschulen und Odenwaldgymnasium der wahre Sachverhalt verschwindet, nämlich daß sechzig Prozent der Fälle im Bekannten-, 29 Prozent gar im Familienkreis passieren und nur in elf Prozent der Fälle Fremde die Täter sind. Diese Zahlen beschreiben das eigentliche Problem: Nicht, daß es auch an katholischen oder progressiven Schulen passiert, sondern die schiere Zahl der Fälle insgesamt!

Um die kümmert sich der von Ihnen geleitete Fachverband Weißes Kreuz e.V.

Trauernicht: Wir untersuchen und klären darüber auf, wie es konkret zu Mißbrauchsfällen kommt und was getan werden kann, um diese von vornherein zu vermeiden. Zur Zeit fragen viele Organisationen mit Jugendarbeit verstärkt bei uns an, die – aufgeschreckt durch die Nachrichten der letzten Wochen – wissen wollen, wie sie verhindern können, daß es auch bei ihnen eines Tages zu einem Vorfall kommt. Zum anderen leisten wir praktische Hilfe, indem wir Mißbrauchsopfer, aber auch – sofern sie freiwillig zu uns kommen – Täter therapeutisch betreuen; sowie eine dritte Gruppe, von der meist wenig die Rede ist: nämlich solche Menschen, die Hilfe suchen, weil sie Angst haben, Täter werden zu können, da sie zunehmend von entsprechenden Phantasien beherrscht werden.

Was bedeutet es für das Opfer persönlich, sexuell mißbraucht worden zu sein?

Trauernicht: Es gibt Menschen, die einen Mißbrauch alleine verarbeiten können. Laut letzter Erhebung beträgt ihr Anteil etwa 27 Prozent. Aber die große Mehrheit, nämlich  73 Prozent, leiden dagegen auch Jahre später noch unter Folgeschäden, 39 Prozent gelten gar als schwer traumatisiert. Das hängt zum einen von der Persönlichkeitsstruktur, zum anderen von der Art des Mißbrauchs ab. Die schon erwähnte Amelie Fried schreibt, sie sei zwar „nicht traumatisiert“,  empfinde jedoch noch heute, 35 Jahre später, „die Scham und das Gefühl, in meiner persönlichen Würde verletzt worden zu sein“. Frau Fried ist allerdings auch „nur“ zum sogenannten Strip-Poker genötigt worden und ist nicht Opfer eines physischen Übergriffs geworden, sonst sähe ihr Fall höchstwahrscheinlich anders aus. Schließlich schreibt sie weiter: „Wenn ich meine Gefühle hochrechne, dann ahne ich, was wirkliche Mißbrauchsopfer empfinden müssen.“ Unter den 73 Prozent, die Jahre oder Jahrzehnte später noch Hilfe brauchen, reicht die Spanne von Leuten, denen einige Gesprächstermine bereits darüber hinweg helfen, weil sie sich nach Jahren des Schweigens endlich einfach aussprechen können, bis hin zu jenen, die ein Leben lang nicht darüber hinwegkommen und unter Minderwertigkeitskomplexen, Depressionen, Schuldgefühlen oder Haß- und Ohnmachtsempfindungen leiden und deren Leben mitunter zerstört ist.

 

Rolf Trauernicht, ist Leiter des Evangelischen Fachverbands für Sexualethik, Pädagogik und Seelsorge Weißes Kreuz e.V. in Kassel. Der 58jährige heilpraktische Psychotherapeut und Coaching-Fachmann war zuvor Direktor eines Seelsorgezentrums für labile Jugendliche und Geschäftsführer eines internationalen Jugendverbands.

Fachverband Weißes Kreuz e.V.: Wie die Hilfsorganisation Weißer Ring ist auch das Weiße Kreuz in der Opferbetreuung tätig, allerdings mit der Spezialisierung auf Themen wie gesellschaftliche Sexualisierung, Sexsucht oder sexueller Mißbrauch. Die bereits 1890 gegründete Organisation (Logo unten) unterhält in Deutschland fast flächendeckend rund einhundert Beratungsstellen.

Kontakt und Informationen: Weißes-Kreuz-Straße 3, 34292 Ahnatal/Kassel, Tel: 0 56 09/83 990, Internet: www.weisses-kreuz.de

Foto: Odenwaldschule-Rektorin Margarita Kaufmann und Schülersprecher Max Priebe am 11. März vor der Presse

 

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