© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Wechselseitige Abhängigkeiten
Rußland: Vor zehn Jahren wurde Putin zum Präsidenten gewählt / Auch als Premier hat er weiter fast alle Fäden in der Hand
Alexander Rahr

Viele fragen sich, welches der beiden Rußlands, die sich nach dem Zerfall des Sowjetunion präsentierten, authentischer ist: Boris Jelzins halbdemokratisches der neunziger Jahre oder Wladimir Putins autoritärer Ordnungsstaat der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts. Fest steht, daß beide ihre historische Berechtigung hatten. Jelzin führte das Land aus dem Kommunismus, er liebäugelte mit dem westlich-liberalen Modell, endete jedoch mit seiner Reformpolitik wieder im Zerfall und Korruption.

Putin, der am 26. März 2000 die Präsidentschaftswahlen gewann, richtete Rußland als Staat wieder auf – und übertrieb es mit der Wiedereinführung alter Kontrollmechanismen. Dmitrij Medwedjew versucht eine Balance zwischen demokratischer und zentralistischer Regierungsform zu schaffen, er vermag aber aus dem Schatten seines Amtsvorgängers nicht herauszutreten und bleibt quasi Präsident unter Putin. Dessen Rußland ist zehn Jahre alt. Die Mehrzahl der Russen erinnert sich mit Schrecken an die Krisen der neunziger Jahre und verdankt Putin ihre gegenwärtige soziale Existenzsicherung.

Putin hat es außerdem vermocht, der durch den Zerfall der Sowjetunion gedemütigten Nation eine neue „Würde“ zu verleihen – auch durch härteres Auftreten gegenüber dem selbstgefälligen Westen. Dank der Milliardeneinnahmen aus Öl und Gas schaffte es Putin, den Lebensstandard so anzuheben, daß viele Russen heute im Gefühl leben, niemals zuvor einen derartigen materiellen Wohlstand erlebt zu haben. Freudestrahlend nahmen die Russen Putins neuestes Geschenk an: Trotz Finanzkrise werden die Renten gegenüber dem Vorjahr um die Hälfte erhöht.

Im Westens wirft man Putin vor, die demokratischen Errungenschaften Jelzins abgeschafft zu haben. Man erinnert daran, daß es Putin nur durch einen brutalen Krieg gegen tschetschenische Separatisten ins Präsidentenamt schaffte und daß dem Krieg „mysteriöse“ Terroranschläge gegen Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten vorangingen. Putins Politik wird als eine Revanche der alten Geheimdienstkader gegen diejenigen Kräfte betrachtet, die das Sowjetimperium zerstört hatten. Putins Außenpolitik wird im Westen als neoimperialistisch angesehen. In Teilen der EU und Nato hört man Stimmen, die zu einer neuen Eindämmungspolitik raten.

Heroisierung Stalins und des Sieges im Zweiten Weltkrieg

In vielem ist die westliche Kritik an Putin ignorant. Kaum jemand, der in der wohlbehüteten westlichen Nachkriegszivilisation aufwuchs, kann sich die Ausmaße der Transformation des Riesenreichs und des Mentalitätswechsels seiner postkommunistischen Eliten vorstellen. Für die Mehrheit der Russen geht es heute mehr um die Sicherung von Recht und Ordnung als um Freiheit und Demokratie. Die jüngsten Regionalwahlerfolge der Kommunisten (JF 12/10) verdeutlichten dies erneut. Das westlich-liberale Modell wurde unter Jelzin ohne Rücksicht auf die sozialen Probleme der Bevölkerung eingeführt – es ist deshalb dort kompromittiert.

Der Westen sieht in Rußland den Verlierer des Kalten Krieges, aber er darf nicht den Fehler machen, ihm das Recht auf eigene nationale Interessen, etwa in Fragen der europäischen Sicherheitsarchitektur, abzuerkennen. Nach 1991 hatten westliche Politiker Moskau versprochen, die Militärinfrastruktur nicht zu weit nach Osteuropa auszudehnen. Heute verspricht die Nato der Ukraine und Georgien die Mitgliedschaft.

Dennoch gibt es Dinge in Rußland, die inakzeptabel sind, wie etwa die Heroisierung Stalins. Mit seiner – wenn auch nur rhetorischen – Großmachtsucht hat Putin der russischen Bevölkerung die Erinnerungen an ihren eigentlichen historischen Sieg des 20. Jahrhunderts ausgelöscht: Während der Perestroika, die vor 25 Jahren begann, befreite sich Rußland selbst vom Kommunismus. Statt an diese Ära zu erinnern, will Putin den Sieg Rußlands im Zweiten Weltkrieg als das bedeutendste identitätsstiftende Geschichtsereignis für ewig in das Gedächtnis seiner Landsleute einprägen. Die pompösen Feiern anläßlich des 65jährigen Jahrestages des Sieges am 9. Mai sollen daran erinnern, daß Rußland dadurch zur Weltmacht aufstieg. Diesen Status möchte Moskau schnellstmöglich zurückerlangen. Doch man kann von ausländischen Staatsführern, die man einlädt, nicht erwarten, daß sie sich auf der Siegesparade vor dem Hintergrund stalinistischer Plakate zeigen.

Den Kalten Krieg und den Ost-West-Konflikt gibt es nicht mehr. Rußlands Militärmacht ist geschrumpft. Nur das Atomwaffenarsenal erinnert noch an vergangene Stärke. Länder wie die Ukraine, Kasachstan, Belarus sind seit bald zwei Jahrzehnten souveräne Staaten. Auch Rußlands mutmaßlicher Energieimperialismus ist eine Fiktion, denn die Energiekooperation beruht auf wechselseitigen Abhängigkeiten. Im Alleingang kann Putin sein Ziel nicht realisieren, Rußland als eines der Zentren einer multipolaren Welt zu verankern. Dafür benötigt er die Unterstützung Chinas und Indiens. Letztere werden aber niemals ein Bündnis unter Moskaus Führung gegen den Westen eingehen.

Um in der globalisierten Welt wirtschaftlich zu überleben, benötigt Rußland eine genuine Modernisierungspartnerschaft mit Europa. Die EU ist Rußlands natürlicher Verbündeter. Deshalb müssen beide Seiten sich mehr anstrengen, in den nächsten Jahrzehnten ein gemeinsames europäisches Haus zu bauen. Putin ist keineswegs dagegen, und Medwedjew scheint eine Annäherung an die EU herbeizusehnen. Doch auch der Westen muß lernen, strategisch über den heutigen Tellerrand hinauszusehen. Es wäre die Ironie der Geschichte, wenn Rußland mit all seinen Bodenschätzen, die Europa für seine Prosperität benötigt, eines Tages nach Asien abdriftet.

 

Alexander Rahr ist Programmdirektor Rußland/Eurasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (www.dgap.org).

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