© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Pankraz,
Bertha von Suttner und die Futurologen

Eine schöne Trouvaille hat der Hildesheimer Verlag Georg Olmes, bekannt als Mekka aller Antiquare und Erstdruck-Liebhaber, auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse vorgezeigt: die unveränderte Neuausgabe von Arthur Brehmers „Die Welt in hundert Jahren“ von 1910, erstmals erschienen also vor tatsächlich genau hundert Jahren in der Verlagsanstalt Buntdruck G.m.b.H. in Berlin SW 68. In dem Opus zu blättern, löst die zwiespältigsten Gefühle aus, nicht zuletzt freilich Kopfschütteln und besserwisserisches Lächeln.

Das Buch war seinerzeit ein Paukenschlag, gewissermaßen die Ouvertüre zur systematischen Futurologie in Deutschland. Werke, die sich mit der Zukunft der Menschheit beschäftigten, SF-Romane, Visionen und Utopien, gab es natürlich auch damals schon in Menge. Doch hier nun – so der Herausgeber und Organisator des Berliner Sammelbands, eben Arthur Brehmer – werde dem verehrlichen Publico zum ersten Mal eine „strikt wissenschaftliche Diagnose und Prognose“ an die Hand gegeben.

Keine literarische Spinnerei oder revolutionäre Wunschdenkerei werde geliefert, sondern ernsthafteste Analyse aktueller Tendenzen und Latenzen, geleistet und zu Papier gebracht von erstrangigen Männern und Frauen der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens. Jeder der Autoren halte sich penibel und exklusiv an das von ihm professionell beackerte Feld, und alle seien gebeten worden, nicht allzu weit in die Zukunft auszugreifen, sondern sich auf den „bescheidenen, weil gerade noch überblickbaren Zeitraum“ von hundert Jahren zu beschränken. Das garantiere Zuverlässigkeit und Realistik.

Bemerkenswert die Themenliste. Bertha von Suttner, die legendäre „Friedenskämpferin“ der Belle epoque, schreibt über „Der Friede in hundert Jahren“, Ellen Key, die schwedische Reformpädagogin, über „Die Frau in hundert Jahren“. Von Carl Peters, dem berühmten Kolonialpolitiker der Kaiserzeit, gibt es einen Beitrag „Die Kolonien in hundert Jahren“, von dem Groß-ideologen der Sozialdemokratie Eduard Bernstein „Das soziale Leben in hundert Jahren“. Und weiter „Die Religion in hundert Jahren“ von Björne Björnson, „Der Sport in hundert Jahren“ von Charles Dona Edward, „Verbrechen und Wahnsinn in hundert Jahren“ von Cesare Lombroso, „Die Literatur in hundert Jahre“ von Hermann Bahr. Usw. usw.

An Überblick und Wissen mangelt es den Beiträgen wahrhaftig nicht. Faszinierend der tiefe Eindruck, den die gerade stattfindenden beiden großen Erfindungen bzw. Entdeckungen der damaligen Zeit auf faktisch sämtliche Autoren machen: die Entdeckung des Radiums und des Atomzerfalls und die Erfindung des Flugzeugs. Eberhard Hustler („Das Radium in hundert Jahren“) hat bereits einen hypergenauen Blick für die horrenden Zerstörungskräfte, die eine technisch-militärische Nutzung des Atomzerfalls freisetzen wird, und Bertha von Suttner schöpft aus dem daraus entstehenden „Gleichgewicht des Schreckens“ nicht unrealistische Hoffnung auf Friedenssicherung.

Was Flugzeug und Zeppelin betrifft, so gehen alle Autoren wie selbstverständlich davon aus, daß sich im Jahre 2010 das „Zeitalter des Flugverkehrs und der ungeheuren Geschwindigkeiten “ allumfassend durchgesetzt haben wird; allerdings ziehen manche daraus die kuriosesten Vorhersagen. Cesare del Lotto etwa („Die Kunst in hundert Jahren“) schreibt, die  Künstler würden ihre Perspektiven nur noch von oben, hoch aus der Luft, beziehen und daraus werde eine völlig neuartige, geradezu göttergleiche Lüftlmalerei bzw. Lüftlplastik entstehen. O du armer Professor del Lotto!

Auffällig bei unseren Früh-Futurologen, ob links oder rechts, ob Bernstein oder Peters, die völlig naive, geradezu naturwüchsige Überzeugtheit von der gottgegebenen Dominanz der weißen Rasse und ihrer Dauerhaftigkeit. Rudolf Martin („Der Krieg in hundert Jahren“) schildert im Brustton der Überzeugung, wie im Jahr 2010 die Vereinigten Staaten von Eu-ropa, wohlwollend unterstützt von den Vereinigten Staaten von Amerika, dank ihrer gewaltigen Luftflotten soeben die Vereinigten Staaten von China und Japan definitiv besiegt und ein für allemal in die Knie gezwungen hätten. Nun also sei der Weltfrieden gesichert.

Nirgendwo in dem Buch  die Rede von Übervölkerung, Ressourcenraubbau, überfischten Ozeanen, sich ausbreitenden Wüsten. Zwar gibt es ganz zum Schluß ein Kapitel „Der Weltuntergang“ von Professor Garret P. Serniss, aber dort geht es ausschließlich um eventuelle kosmische Katastrophen vom Schlag der heutigen Klimaerwärmung, nur viel, viel heißer als diese (und noch sehr viel unwahrscheinlicher). Ansonsten herrscht jener pausbackige Fortschrittsoptimismus, wie er halt vor hundert Jahren  üblich war.

Fast ist es ja ein Skandal: Zwar zirpen sämtliche Experten des Jahres 1910 in dem Buch vom „drahtlosen Zeitalter“, das sich im Jahre 2010 voll durchgesetzt haben werde („Das drahtlose Jahrhundert“ von Robert Stoß), aber was dieses drahtlose Jahrhundert für die einzelnen Menschen und für die Gesellschaft im Ganzen wirklich bedeuten wird – darüber nur einige hilflose Phrasen. Kein Wort über Fernsehen, kein Wort über Internet (oder wie man das damals hätte nennen können), kein Wort über die ungeheure Macht der digitalen Medialität, wie sie sich 2010 realiter entfaltet hat.

Vielleicht hätten sich Arthur Brehmer und die Seinen mehr an der weltberühmten Zukunftsdiagnose „Nova Atlantis“ von Francis Bacon aus dem Jahre 1627 orientieren sollen. Dort gibt es – neben allem, was es bei den Damen und Herren von 1910 dann auch gab – zusätzlich noch ausgedehnte Forschungsinstitute zur Fortbildung von Futurologen, darunter ein „Betrugslabor“, in dem außer fälschungssicheren Pässen noch raffinierte Methoden entwickelt werden, um falschen Propheten aller Art auf die Schliche zu kommen. Auch für Futurologen des Jahres 2010 wäre so ein Labor gar nicht schlecht.

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