© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Nur keine Denkmäler errichten
Weder Erbschaft noch Gegenwart ignoriert: Zum Tod des Bayreuther Festspiel-Patriarchen Wolfgang Wagner
Harald Harzheim

Sein Name stand für ständigen Neuanfang. Bis zuletzt überraschte und provozierte Wolfgang Wagner, der „Patriarch auf dem Grünen Hügel“, das Bayreuther Publikum mit seinem Mut zum Experiment. Dabei war diese Stätte während seiner Kindheit ein kultureller Weihetempel, geleitet von seinem Vater Siegfried und dessen Frau Winifred Wagner.

Beider Söhne, Wieland und Wolfgang Manfred Martin, geboren am 30. August 1919, wuchsen inmitten des Festspielbetriebs auf. Nach Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg und ideologischem Mißbrauch schien das Bayreuther Festspielhaus in jeder Hinsicht am Ende. Da traten beide Wagner-Enkel zur sogenannte „Entrümpelung“ an. Weg mit Pathos, Prunk und ideologischer Aufladung. „Hier gilt’s der Kunst“, hieß es bei der Wiedereröffnung 1951.

Wieland erwies sich als wegweisender Opernregisseur, der das großväterliche Werk tiefenpsychologisch nach C. G. Jung als „inneres Drama“ auf leerer Bühne deutete. Wolfgang hingegen herrschte nach dem frühen Tod des Über-Bruders 1966 als Alleinverantwortlicher für die Festspiele. Sein Konzept lautete: „Bayreuth als Werkstatt“, fernab von Zementierung, kultischer Überhöhung und Museumscharakter. Damit nahm er – im Gegensatz zu seinen zahlreichen Gegnern – das dramaturgische Programm des Großvaters radikal wörtlich.

„Nächstes Jahr machen wir alles anders“

Richard Wagner träumte – als 1849er-Revolutionär und Freund des Anarchisten Michail Bakunin – von einem hölzernen Festspielhaus mit freiem Eintritt. Dort sollten seine Musikdramen aufgeführt, die Partitur anschließend verbrannt und das Haus wieder abgerissen werden: nur keine Denkmäler errichten, nichts zementieren, alles im Fluß lassen.

Als der alte Wagner schließlich sein Bayreuther Festspielhaus errichten konnte, war es ihm ein fauler Kompromiß. Wenigstens aber sollte jede Regieanweisung, jede inszenatorische Deutung nur Provisorium bleiben: „Nächstes Jahr machen wir alles anders!“ und „Kinder, schafft Neues“, feuerte der alte Meister seine Mitarbeiter an. Die waren leider überfordert. Denn nach Richard Wagners Tod 1883 galt der letzte Inszenierungsstand plötzlich für unantastbar; Aktualisierungen riskierte man nur mit äußerster Vorsicht. Erst durch die „Werkstatt Bayreuth“ seiner Enkel Wolfgang und Wieland kam Wagners radikale Offenheit wieder zum Zug.

Bereits in den ersten Jahren erntete Wolfgang Wagners Intendanz weltweiten Skandalruhm. Das begann 1972, als der damalige Oberspielleiter der Komischen Oper Berlin, Götz Friedrich, den Bayreuther „Tannhäuser“ inszenierte: Aufmarschierende Arbeiterchöre ließen das Publikum aufschreien. Sogar CSU-Chef Franz Josef Strauß, ein enger Freund Wolfgang Wagners, wurde im anschließenden Pressewirbel zur Stellungnahme gebeten.

Noch heftigere Reaktionen provozierte Patrice Chéreau 1976 mit seiner „Ring“-Version, dirigiert von Pierre Boulez. Der junge Theaterregisseur Chéreau, der mit diesem Monumentalwerk sein Operndebüt stemmte, verstand Wagners Trilogie im Sinne George Bernhard Shaws – als Kritik am Industriezeitalter. Wieder schäumten die Wogen. Inzwischen gilt diese Deutung als eine der besten Ring-Aufführungen überhaupt, als „Jahrhundertring“.

Aber Wolfgang Wagner war kein einseitiger Bilderstürmer, sondern zu beiden Seiten tolerant, verschloß sich keineswegs gegenüber traditioneller Deutung. So ließ er den Filmregisseur Werner Herzog einen konservativen „Lohengrin“ realisieren. Auch der gilt zu Recht als „Perle“ in der Bayreuther Inszenierungsgeschichte. Gleiches läßt sich über Peter Halls wortgetreu-romantischen „Ring des Nibelungen“ (1984) sagen, den die Feuilletons verrissen und das Publikum feierte.

Wolfgang Wagners Pluralismus – für Nachlaßverwalter eine optimale Haltung – fand in seiner „Tannhäuser“-Inszenierung bildliche Verdichtung. Handelt das Musikdrama von der Gegnerschaft zwischen Venus und Maria, stellte der Regisseur beider Statuen auf die Bühne – harmonisch nebeneinander: nicht die Madonna oder, sondern die Madonna  und die Liebesgöttin. Warum sollten differente Lebensformen nicht nebeneinader koexistieren? Gleiches gilt für die Kunst: weder Erbschaft noch Gegenwart ignorieren, sondern die Zerreißprobe ertragen.

Toleranz bedeutete niemals Gleichgültigkeit

Aber Toleranz bedeutete für Wolfgang Wagner niemals Gleichgültigkeit. So galt er persönlich als  hochschwierig. Zahlreiche Regisseure wie Rudolf Noelte oder Peter Stein, zur Inszenierung des „Parsifal“ bestellt, schmissen schon beim Konzeptionsgespräch das Handtuch. Bis zuletzt – trotz Rücktrittsforderungen und Familienfehden – blieb Wolfgang Wagner auf der Höhe seiner Zeit. So holte er 1993 Heiner Müller für „Tristan und Isolde“ nach Bayreuth, später lud er den Filmregisseur Lars von Trier zur Neuinszenierung vom „Ring des Nibelungen“ (das für 2006 geplante Projekt scheiterte, weil der Däne das Handtuch warf) und Christoph Schlingensief zum „Parsifal“ (2004) ein. Auch bei den Dirigenten ließ sich der Intendant nicht lumpen. So gelang es ihm wiederholt, den Avantgarde-Musiker Pierre Boulez zu gewinnen. Der hatte einst die Sprengung aller Opernhäuser verlangt – „außer vielleicht Bayreuth ...“

Wolfgang Wagners „Werkstatt“ war, so erkannte der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek, „vitaler als all seine Kritiker“, denn die „Bayreuther Inszenierungen registrieren am genauesten, was uns geistig und politisch umtreibt“. Vergangenen Sonntag verstarb der Bayreuther Prinzipal im Alter von 90 Jahren. Er sei friedlich eingeschlafen, ließ die Tochter und Nachfolgerin Katharina Wagner (31) wissen.

Foto: Wolfgang Wagner mit seiner Tochter Katharina, die zusammen mit ihrer Halbschwester Eva Wagner-Pasquier seit 2008 die Bayreuther Festspiele leitet: Seine Werkstatt war vitaler als alle Kritiker

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