© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Ein Volk von freien Patrioten
Kolberg und Nettelbeck: Der preußisch-deutsche Mythos ist aus der Literatur verschwunden
Thorsten Hinz

Die meisten Deutschen wissen, welche Heldentaten Joachim Nettelbeck bei der Belagerung seiner Vaterstadt Kolberg vollbracht, aber sie wissen nur wenig von seinem frühen Schicksal.“ So beginnt das  Kinderbuch „Der Held von Kolberg“ von Robert Hohlbaum aus dem Jahr 1935.

Die Geschichte um den couragierten Bürgervorsteher Nettelbeck, der 1806/07 gemeinsam mit dem Stadtkommandanten August Neidhardt von Gneisenau Napoleons Angriff auf die kleine pommersche Hafenstadt abwehrt und ein Beispiel patriotischer Selbstbehauptung gibt, gehörte als preußisch-deutscher Mythos zum Allgemeinwissen. Hohlbaum war ein großdeutsch gesinnter Österreicher, der 1942 Direktor der Landesbibliothek in Weimar wurde. Niemand ahnte, daß nur zehn Jahre später, am 18. März 1945, mit der Eroberung Kolbers durch die Rote Armee die Geschichte der Stadt enden sollte; daß der Dom und das Nettelbeck-Gneisenau-Denkmal in Trümmern liegen und weitere 65 Jahre später fast alle Erinnerungen gelöscht sein würden. Hohlbaums Buch wurde – wie andere Schriften von ihm auch – nach 1945 von der russischen Militärbehörde indiziert, der Autor kehrte 1951 nach Österreich zurück.

Goebbels versprach sich Wunder von dem Film

Noch zwei weitere Nettelbeck-Romane erschienen in jenen Jahren. 1936 veröffentlichte Kurt Maronde, ein gebürtiger Stettiner, „Der Schiffer Nettelbeck“, in dem auch seine Seefahrten berücksichtigt werden, die ihn bis an die westafrikanische Küste und in die Karibik führten. Nach dem Sieg über Napoleon richtete Nettelbeck die vergebliche Aufforderung an die preußische Regierung, in der Kolonialfrage aktiv zu werden; Maronde stellt ihn als Visionär deutscher Weltpolitik heraus. Das Buch wurde 1954 für den Gütersloher Bücherring – aus dem der Bertelsmann-Club hervorging – neu aufgelegt. 1943 veröffentlichte Clara Schulte, eine Verfasserin historischer Romane aus dem pommerschen Bütow, das Buch „Der Ritter mit dem Drachen“, das im Untertitel „Ein Nettelbeckroman“ heißt.

Sie alle stützen sich auf Nettelbecks (1738–1824) Memoiren, die unermüdlich gedruckt wurden. Noch 1944 wurden in Lübeck/Leipzig und Breslau zwei unterschiedlichen Ausgaben herausgebracht. Die Breslauer wurde mit Bildern und Faksimiles aus dem Kolberger Stadtarchiv ausgestattet, das 1945 verbrannte. Das Publikum sollte wohl auf Veit Harlans „Kolberg“-Film eingestimmt werden, von dem sich NS-Propagandaminister Joseph Goebbels wahre Wunder versprach, der aber erst am 30. Januar 1945 zur Aufführung gelangte.

In der Bundesrepublik wurde das Kolberg-Thema nur noch in mehreren Landser-Heften aufgegriffen, die sämtlich die Untergangschronik „Die letzten Tage von Kolberg“ von Johannes Voelcker aus dem Jahr 1959 adaptierten. Etwas besser sah es in der DDR aus, wo 1953 im Verlag der Nation das Büchlein „Nettelbeck“ erschien, eine „Historische Erzählung“ von Curt Hotzel. Das war um so erstaunlicher, weil Hotzel der NSDAP angehört hatte und mehrere seiner Bücher von den Sowjets verboten wurden.

Die Nettelbeck-Erinnerungen sind inzwischen vergriffen

Hotzels Erzählung endet mit dem Frieden von Tilsit 1807. Kolberg hat sich zwar behauptet, doch Preußen wurde zum Satelliten von Napoleons Gnaden herabgestuft. Gneisenau sagt daher zum Schluß zu Nettelbeck, die größte Aufgabe stehe ihnen jetzt erst noch bevor: „Aus einem geschlagenen Volk von Untertanen ein Volk von freien Patrioten zu machen!“ Die Aussage deckte sich mit dem offiziellen Anspruch der DDR, das bessere Deutschland zu repräsentieren.

Das am stärksten schöpferische und vorerst letzte Buch zum Thema, Heinz-Jürgen Zierckes „Sie nannten mich Nettelbeck“, erschien 1968 im Rostocker Hinstorff Verlag. Der Kolberger Lehrer und Heimatforscher Scharrenberg, der auch Nettelbeck genannt wird, flüchtet mit 300 Schicksalsgefährten auf einem überladenen Schiff über die Ostsee vor den Russen. In seinen Gedanken changieren die Zeitebenen, immer wieder fühlt er sich nach 1806/07 und in Nettelbecks Person versetzt, doch er weiß, daß es 1945 kein vergleichbares Wunder mehr geben wird.

Der Harlan-Film und die Dreharbeiten werden ebenfalls erwähnt. Es werden Kino-Vorführungen in Kolberg behauptet, zu denen es allerdings nicht mehr kam. Ein Telefonat mit dem 1926 im pommerschen Greifenberg geborenen Autor ergab, daß er selber nie in Kolberg gewesen war. Harlans Film habe er sich im Filmarchiv der DDR ansehen dürfen, und nein, politische Vorgaben habe man ihm nicht gemacht. Warum es bei der ersten Auflage geblieben sei? Nun, das Buch habe sich nicht gut verkauft.

War es das mit dem Kolberg-Mythos? Wahrscheinlich. In der Anderen Bibliothek des Eichborn-Verlags erschienen Anfang der 1990er Jahre noch einmal die Nettelbeck-Erinnerungen. Die Ausgabe ist inzwischen vergriffen.

Foto: Heinrich George (r.) als Joachim Nettelbeck und Horst Caspar als Gneisenau in Veit Harlans Film „Kolberg“ (1945): Stand ihnen die größte Aufgabe erst noch bevor?

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