© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Heutiger Konformität weit voraus
Siegfried Gerlich hat eine beachtenswerte Biographie über den Geschichtsdenker Ernst Nolte geschrieben
Thorsten Hinz

Einen „erratischen Block“, der „aus der gehegten Landschaft der deutschen Geschichtswissenschaft“ herausragt, nennt Siegfried Gerlich das Werk des von ihm porträtierten Historikers Ernst Nolte. Auch als ein Bergmassiv, das stets neu umschritten werden muß, ließe es sich beschreiben. Denn bei wiederholter Lektüre entdeckt der Leser jedesmal unbekannte Pfade, aus deren Höhen sich ihm immer wieder überraschende Gesichtspunkte und Perspektiven eröffnen. Diese Potenz zur permanenten Selbstverjüngung macht das in über fünfzig Jahren gewachsene Œuvre Ernst Noltes so einzigartig. In 13 Kapiteln gibt Gerlich Einblicke in seine Biographie und fächert sein Werk, seine Gedankenwelt und Begrifflichkeit auf. Der Kenntnisreichtum des Autors ist bestechend, die komplizierten Argumentationslinien Noltes vollzieht er gut verständlich und mit sprachlicher Eleganz nach.

Ernst Nolte bezeichnet sich selbst als „Geschichtsdenker“. Bis zum Zusammenbruch der idealistischen Geschichtsphilosophie Hegels sahen die Historiker ihre Aufgabe darin, ein verborgenes Konzept offenzulegen, das sich im Lauf der Welt verwirkliche. Danach schlug die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft, und es begann ein neuer, offenerer Umgang mit der Geschichte. Der verlorene Glaube an einen höheren Sinn in ihr hinterließ einen „epochalen Schmerz“, dem auch das moderne Geschichtsdenken entspringt. Nolte fühlte sich berufen, ihn zu stillen, indem er nach einem Ganzen sucht, das die wissenschaftliche Summe seiner Teile übersteigt – und zugleich die eigene Geschichtlichkeit und die Hybris jedweden Totalitätsanspruchs in Rechnung stellt.

Kennzeichnend für ihn ist das Ausgreifen ins Globale und in universalhistorische Zusammenhänge. In „Deutschland und der Kalte Krieg“ (1974) legt er auf mehreren Erklärungsebenen dar, warum ausgerechnet das europäische Herzland zum exklusiven Schauplatz des Weltbürgerkrieges wurde, zu dem viele geistes- und realgeschichtliche Entwicklungen seit langem drängten. Dagegen das zweibändige Mammutwerk „Der lange Weg nach Westen“ (2000) von Heinrich August Winkler – der unter Rot-Grün zum Hofhistoriker der „Berliner Republik“ aufstieg –, in dem stur die „Sonderweg“-These durchexerziert und die Ankunft im Westen als Telos der geschichtlichen Entwicklung gefeiert wird. Zur selben Zeit hatte Nolte sein unvergleichlich komplexeres Konzept schon wieder erweitert und sich mit Prozessen beschäftigt, die über den „Westen“ hinausweisen: mit der Gefahr einer geschichtslosen, sich in Konsum erschöpfenden Existenz, die der Westen selber generiert, und den aktuellen Gegenbewegungen wie den Islam. Der als fortschrittlich geltende Winkler wirkt gegenüber dem vermeintlich reaktionären Nolte geradezu vorhegelianisch veraltet. Gerlich hat wohl recht mit der Vermutung, daß die meisten Historikerkollegen und Journalisten mit Noltes „hermeneutischem Ernstfall“ einfach überfordert sind.

Nolte hat sich nie als politisierender Geschichtsschreiber verstanden. Eben das sollte ihn in einem politisierten Umfeld zu einem Unzeitgemäßen, zur Reizfigur und zum Politikum stempeln. Seit dem Historikerstreit über die Singularität des Holocaust 1986/87 ist Nolte ein Ausgegrenzter geworden, gilt er „sozial und politisch als ein Paria“, wie kürzlich der Feuilleton-Chef der FAZ in einem Totschlag-Artikel süffisant vermerkte. Der inzwischen 87jährige hat dieser Situation nicht nur widerstanden, er hat ihr auch eine schier unglaubliche wissenschaftliche Produktivität abgerungen. Das zeugt von einer geistigen Unabhängigkeit und moralischen Unanfechtbarkeit, wie sie nur wenigen gegeben ist.

Einer seiner Schlüsselbegriffe lautet „Transzendenz“, wobei zwischen theoretischer und praktischer Transzendenz zu unterscheiden ist. Die theoretische Transzendenz meint den geistigen Bezug des Menschen auf Gott oder den Kosmos, aus dem heraus er lebt und denkt. Die praktische Transzendenz ist eine Eigenschaft des geschichtlichen Menschen und bezeichnet sein Streben nach Weltbemächtigung und selbstbewußtem Fortschritt. Im Judentum sieht Nolte beide Formen exemplarisch vereint. Hitlers Judenhaß kam aus der Furcht, daß der weitere Fortschritt den Europäer entmachten und zum Kretin degenerieren würde. Der Mord an den europäischen Juden habe den metaphysischen Hintersinn gehabt, diese Entwicklung zu stoppen. Er sei gegen das Menschsein als solches gerichtet und daher von besonderer, singulärer Qualität gewesen. Niemand von Noltes Kontrahenten im Historikerstreit hatte bemerkt, was Armin Mohler klar erfaßte: daß diese These eine „Zementierung“ der Singularität des Holocaust darstellt. Nolte habe „das transzendentale Verbrechen (erfunden), das nur Deutsche begangen haben. Er ist ein Liberaler, er ist gar nicht so weit entfernt von Habermas. Nur: die Leute lesen das nicht, nehmen das nicht zur Kenntnis.“

An Stellen wie diesen hätte man dem Autor mehr Abstand zum Gegenstand des Interesses gewünscht. Es wäre in der Tat darüber zu diskutieren, ob Nolte nicht generell das machtpolitische Moment zugunsten des ideologischen unterschätzt, ob er nicht beispielsweise den Holocaust zu stark aus der ideologischen Stringenz des Nationalsozialismus und zu wenig aus dem Kriegsverlauf ableitet. Könnte die Drohung und schließlich der Beginn des Massenmords für Hitler nicht auch ein letztes Druckmittel gewesen sein, um die Gegner zu einem Friedensschluß zu bewegen, den er militärisch seit Ende 1941 definitiv nicht mehr erzwingen konnte? Bei genauer Lektüre finde man solche Hinweise übrigens auch bei Nolte, nur sind ihm andere Zusammenhänge wichtiger.

Mohler indes unterschätzte, was Noltes Gegner sofort begriffen: Die Argumentation, mit der er das Singularitäts-Postulat begründet, ist eine rein geschichtliche, sie kennt keine Denkverbote und Dogmen. Deshalb ist sein Werk anschlußfähig für weitergehende Überlegungen und flexibel gegenüber Kritik. Mit seiner strikten Wissenschaftlichkeit stellt es ein – jedenfalls intellektuell – unüberwindbares Hindernis für jene dar, die sich der Sakralisierung des Großverbrechens verschrieben haben und es als „Niemandsland des Verstehens“ und „schwarzes Loch“ (Dan Diner) in außergeschichtliche Bereiche entrücken wollen. Das 1998 veröffentlichte Buch „Historische Existenz“ führt den Leser schließlich zu der Frage, ob der antifaschistische, multikulturalistische, egalitäre, anhaltend auf Hitler fixierte Kampf nicht bereits eine umfassende Kulturrevolution darstellt, die sich gleichfalls gegen die theoretische und praktische Transzendenz wendet und paradoxerweise Hitlers Intention, wie sie Nolte interpretiert, zu vollenden strebt.

Noltes Werk ist also lebendig und hat die Zukunft für sich. Siegfried Gerlichs kluge Studie vereint die Eigenschaften eines Plädoyers und einer Werkeinführung. Mit einer Renaissance zu Lebzeiten, schreibt er, rechne Nolte nicht mehr, seine irdische Existenz werde er beenden, wie er sie begonnen habe: als Außenseiter. Für ihn gilt der Grillparzer-Vers: „Will unsre Zeit mich bestreiten, Ich laß es ruhig geschehn, Ich komme aus anderen Zeiten, Und hoffe in andre zu gehn.“

Siegfried Gerlich: Ernst Nolte. Portrait eines Geschichtsdenkers. Edition Antaios, Schnellroda 2009, gebunden, 305 Seiten, Abbildungen, 22 Euro

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