© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Ein viertel Prozent
Das Scheitern der Großen Koalition im März 1930 besiegelte das Ende der parlamentarischen Demokratie in Deutschland
Dag Krienen

Am 27. März 1930, gegen 19 Uhr abends, stellte Reichskanzler Hermann Müller (SPD) dem Reichskabinett die Frage, „ob das Kabinett die Regierungsvorlage“ vom 5. März zur Deckung des Reichshaushalts „im Reichstag weiter vertreten oder ob die Regierung noch heute zurücktreten“ wolle. Der Reichsminister der Finanzen, Paul Moldenhauer (DVP), hielt es angesichts der seitens seiner Partei fehlenden Unterstützung für die Vorlage „für richtiger, daß das Reichskabinett zurücktrete“. Daraus schloß Müller, „daß das Reichskabinett für den Demissionsbeschluß sei. Diesen Beschluß werde er unverzüglich dem Herrn Reichspräsidenten unterbreiten.“

Mit wechselseitigen Danksagungen für die gute Zusammenarbeit endete am gleichen Tag die im Sommer 1928 ins Amt gekommene Große Koalition aus SPD, der nationalliberalen DVP, der linksliberalen DDP, dem katholischen Zentrum und der Bayerischen Volkspartei. Damit schied zugleich die letzte Regierung der Weimarer Republik aus dem Amt, die noch auf parlamentarischer Basis hatte regieren können. Die nachfolgende Regierung verkündete bereits bei ihrem Antritt, „an keine Koalition gebunden“ zu sein. Der neue Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum) suchte zwar zunächst noch die Unterstützung des Reichstags, war aber von Anfang an bereit und ging auch später dazu über, sich gegen die Reichstagsmehrheit auf das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten zu stützen. Das Ende der Großen Koalition leitete die Ära der Präsidialkabinette ein; die Zeit der parlamentarischen Demokratie war 1930, wie sich zeigen sollte, in Deutschland vorläufig abgelaufen.

Arbeitslosenversicherung war Auslöser des Bruchs

Der Anlaß für das Scheitern der letzten parlamentarischen Regierung der Republik war auf den ersten Blick banal. Es ging um eine geringfügige Erhöhung der Beitragssätze für die erst 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung, die insbesondere zwischen der DVP und der SPD umstritten waren. Die SPD wollte in der einsetzenden Wirtschaftskrise Leistungskürzungen vermeiden und plädierte für eine Anhebung der – zur Hälfte von den Arbeitgebern getragenen – Beitragssätze und zusätzliche Reichsdarlehen. Die DVP hingegen sperrte sich gegen die Erhöhung der „Lohnnebenkosten“ und wünschte Leistungskürzungen. Im Dezember 1929 war es der Regierung Müller zunächst noch gelungen, einen Kompromiß zu finden und eine Erhöhung von ursprünglich 3 Prozent auf 3,5 Prozent durchzusetzen. Die Situation der Reichsanstalt für Arbeit blieb indes prekär, da sich die im Oktober 1929 in den USA ausgebrochene Weltwirtschaftskrise in der bereits seit Ende 1928 schwächelnden deutschen Wirtschaft immer stärker auswirkte und die Arbeitslosenzahlen in Deutschland weiter anstiegen. Auf Ministerebene gelang es am 5. März 1930 zwar noch einmal, sich auf eine gemeinsame Regierungsvorlage zur Deckung des Reichshaushalts zu einigen, die unter anderem vorsah, die Reichsanstalt zur Erhöhung des Beitragssatzes auf bis zu 4 Prozent zu ermächtigen. Dieser Kompromiß wurde nun aber nicht nur von den Spitzenverbänden der Industrie, sondern auch der DVP-Fraktion im Reichstag abgelehnt. In den folgenden Verhandlungen beharrte die DVP auf ihrer Position; die SPD zeigte sich nur bereit, auf 3,75 Prozent herunterzugehen. Am 26. März legte Brüning als Fraktionsführer des Zentrums einen letzten Kompromißvorschlag vor, der praktisch die Entscheidung über Beitragserhöhung und Reichsdarlehen bis zum Herbst 1930 vertagt hätte. Diesem Vorschlag stimmte nun die DVP zu, nicht aber – obwohl Reichskanzler Müller dafür bei seinen Parteifreunden geworben hatte – die SPD.

Da der Rücktritt des Kabinetts Müller am 27. März eine scharfe Zensur in der Geschichte der Weimarer Republik markiert, hat er immer wieder für Kontroversen gesorgt. Wer war damals tatsächlich für das Ende der letzten parlamentarischen Regierung Deutschlands verantwortlich – und damit für eine der Voraussetzungen der späteren Machtergreifung Hitlers?

Hindenburg hatte Brüning als Nachfolger auserkoren

Links orientierte Historiker haben wiederholt versucht nachzuweisen, daß die SPD und Müller damals das vielleicht ungeschickte, aber auf jeden Fall unschuldige Opfer einer sinistren rechten Intrige geworden wären. In Wirklichkeit sei das Herausdrängen der SPD aus der Regierung schon lange vor dem 27. März von konservativen Kreisen aus Reichswehr, Schwerindustrie und Großgrundbesitz um den Reichspräsidenten Hindenburg geplant gewesen – und zwar mit dem Ziel, einen autoritären Umbau des deutschen Regierungssystems einzuleiten.

Solche Pläne existierten. Das ändert aber nichts daran, daß die unmittelbare Ursache für den Fall der Großen Koalition die Weigerung der Reichstagsfraktionen von DVP und SPD war, die von ihren Parteifreunden in der Regierung bereits erzielten Kompromisse mitzutragen. Eine direkte Intervention der außerparlamentarischen konservativen Kreise ist beim Rücktritts des Kabinetts Müller nicht nachweisbar. Heinrich Brüning war zwar von Hindenburg schon zuvor als möglicher Nachfolger Müllers auserkoren worden. Doch obwohl auch er Plänen für einen autoritären Regierungsumbau nicht abgeneigt war, hätte er es im Frühjahr 1930 eigentlich vorgezogen, das Ausschalten der SPD bis zum Spätsommer zurückzustellen, um die beabsichtigte Räumung des besetzten Rheinlands durch die Franzosen im Juli des Jahres nicht zu gefährden.

Die Große Koalition scheiterte gewiß nicht nur am Streit um einen Viertelprozentpunkt Sozialversicherungsbeiträge. Zu ihrem Ende trugen vielmehr eine Reihe von strukturellen und politischen Faktoren jenseits aller subjektiven Ziele und Taktiken der Politiker bei. Ihre Grundlage war stets vor allem jener Konsens gewesen, der zwischen 1928 und 1930 von der rechtsliberalen DVP bis zur SPD in einer wichtigen außenpolitischen Frage bestanden hatte: die Notwendigkeit einer Neuregelung der deutschen Weltkriegsreparationen, wie sie durch den von seiten der extremen Rechten und Linken heftig befeindeten Young-Plan dann vorgenommen wurde. Nachdem dieser Plan am 12. März 1930 vom Reichstag endgültig angenommen worden war, entfiel jene zentrale Gemeinsamkeit, die zuvor die insbesondere zwischen DVP und SPD bestehenden fundamentalen sozial- und wirtschaftspolitischen Differenzen in den Hintergrund hatte treten lassen.

Unter dem Druck der sich entfaltenden wirtschaftlichen Krise ab Ende 1928 rückten zudem alle bürgerlichen Parteien nach rechts. Die DVP entwickelte sich nach dem Tod Gustav Stresemanns im Oktober 1929 endgültig von einer liberalen Volkspartei zu einer „antimarxistischen“ Wirtschaftspartei (Hagen Schulze), die zusammen mit großen Teilen der Industrie die sozialstaatlichen Errungenschaften der Weimarer Republik zurückschneiden wollte. Die SPD sperrte sich naturgemäß dagegen.

Zugleich aber wurde auch in dieser Partei das Bestreben übermächtig, sich durch Austritt aus der Regierung der Mitverantwortung für weitere absehbare sozialpolitische Grausamkeiten zu entziehen. Die „angeborenen“ strukturellen Belastungen der „Republik nicht ohne, aber mit viel zu wenig Republikanern“ (Hendrick Thoß), der Druck der sich entfaltenden Weltwirtschaftskrise und der zunehmende Autismus in sämtlichen politischen und sozialen Lagern trugen alle ihren Teil zum Ende der Großen Koalition und der parlamentarischen Regierungsweise in Deutschland bei.

Fotos: Arbeitslosenelend Ende der zwanziger Jahre: Mit der Annahme des Young-Plans im Reichstag entfiel die zentrale Gemeinsamkeit der Koalition, Reichskanzler Hermann Müller (SPD)

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