© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Deutschland als Schicksal
Ein Aufbruch ist immer möglich
von Larsen Kempf

Das eherne Wort der Nation fällt dem Vergessen anheim – das zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Presse. Konkrete Anzeichen dafür sind die allgegenwärtig diagnostizierbare Dekadenz, eine fatale Geschichts- und Gesellschaftspolitik oder ein ausufernder Konsumismus. Dabei bezeichnete die Nation ursprünglich ein geradezu erfüllend inspirierendes Lebensgefühl, das die emotionale Bindung an die eigene Heimat gedanklich unter einem großen Ideal faßte.

Früher konnte es kaum verwundern, wenn der französische Staatsphilosoph Ernest Renan seine berühmte Vorlesung „Was ist eine Nation“ (1882) mit der Feststellung einleitete, Nation sei eine Seele, ein geistiges Prinzip. Bei Renan wird die Nation so noch in ihrer althergebrachten Metaphorik geschätzt. Diese für Europa so bedeutende Idee, mehr als ein Prinzip, läuft Gefahr zu verblassen, weil die Nation auf emotionale Schwärmerei reduziert, seit Jahrzehnten diskreditiert und in den Stätten der Sozialisation mit eiserner Konsequenz aberzogen wird: Nicht einmal mehr der deutsche Soldat singt heute vorbehaltlos das „Deutschlandlied“.

Dieser vehement geführte Prozeß der rationalistischen Entwertung des Nationalitätsprinzips insbesondere seit den politisch spannungsreichen sechziger Jahren unterließ es allerdings, das hervorgerufene Vakuum zu kompensieren: durch einen anderen Bündelungspunkt individueller Bedürfnisse und Wünsche. Die vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme des heutigen Gesamtdeutschland, über die allenthalben jeder klagt, wird man daher vor dem Hintergrund einer undifferenzierten Degradierung alles Nationalen interpretieren. Leicht läßt sich feststellen: Nur die Nation bietet einen über das jeweilige politische System hinausreichenden Identifikationswert, der wirklich tiefe Reformbestrebungen legitimierte.

Solch eine „funktionalistische“ Perspektive deutet schon auf eine tiefere Dimension nationaler Realität. Nation – so könnte etwa formuliert werden – konkretisiert sich regelmäßig in einem staatlichen System, ist zumindest prinzipiell auf einen Staat hin geordnet, ohne daß dieses ihm inhärente Ziel auch zwangsläufig verwirklicht wäre. Im europäisch-abendländischen Kontext steht Nation jedenfalls in unmittelbarem Wechselverhältnis zum Staatsgefüge und wird durch dieses wahrgenommen. In den hohen Institutionen der Gesetzgebung, der ausführenden sowie der jurisdiktiven Gewalt begreift der Bürger seine Nation. Derart aufeinander bezogen, zeigt der fortschreitende Verfall der Staatshoheit – die den Deutschen überdies lange Zeit vorenthalten war – eine bedrückende Verflachung seines geistigen Fundaments an. Nicht zuletzt der immer respektlosere Umgang vieler Bürger mit ihren Staatsdienern – jenen Polizisten und Soldaten, die pflichtbewußt und treu tagtäglich ihren Dienst verrichten – belegt die Krise staatlicher Akzeptanz. Fast scheint es, daß es das Schicksal Deutschlands ausmacht, seine nationale Größe nie angemessen in einem Staat verwirklichen zu können, sondern auf Kultur reduziert zu bleiben.

Eine Reduktion des Deutschen auf Kultur ohne Staat entspräche zur Gänze der Staatslehre Friedrich Meineckes, der die deutsche Kulturnation von der französischen Staatsnation unterschied. Gewiß hat diese idealtypische Differenzierung in der Allgemeinen Staatslehre ihren legitimen Ort, doch darf bereits vom rein empirischen Standpunkt her nicht übersehen werden, daß konsequent voneinander abgrenzbare Staats- oder Kulturnationen einfach nicht existieren, sondern höchstens in ihrer jeweiligen Spezifität verstärkt sind. Schon gar nicht darf sie normativ befriedigen, wollte man den Staat als Legitimitätsmodell nicht abschaffen.

Anhand eines gemeinsam erfahrenen Schicksals, gemeinsam erinnerter Leistungen und Errungenschaften scheint eine unverwechselbare Kontur in der Geschichte auf, welche die Nation begründet und nationale Erinnerungskultur hervorruft.

Andere Berechtigung besitzt dabei der Einwand Armin Mohlers, der in den fünfziger Jahren an die staatlichen Gebilde des Reiches und Imperiums er-innerte, die ebenfalls vom Nationalstaat verschieden sind, allerdings als höherwertige politische Ordnungen zugleich über ihn hinausreichen. Nicht zuletzt die alternative Reichsidee bezeugt eine Wandelbarkeit des Staates in concreto gegen das prekäre „totalitäre Argument“, dem zufolge Volk, Gesellschaft und Individuum dem Staat als transzendenter Kategorie unumschränkt zu unterwerfen wären. Wenn auch staatliche Legitimität im allgemeinen nicht bei undemokratischen Formen (etwa der Monarchie!) endet, so doch in Fällen eigener Absolutsetzung. Daher war es die Hybris des 20. Jahrhunderts, den Staat metaphysisch zu überhöhen: Der Staat setzt ein nationales Subjekt voraus, das ihn unumgänglich macht, aber auch unter ständigen Legitimitätsdruck setzt.

In konservativer Theorie lebt dieses nationale Subjekt von der Gemeinschaft der Staatsbürger, die sich (idealerweise) im Staat eine angemessene Form schafft. Ein derartiger Bezug auf die Gemeinschaft offenbart sich besonders in der geschichtlichen Retrospektive als Phänomen der Schicksalsgemeinschaft des Volkes. Anhand eines gemeinsam erfahrenen Schicksals, gemeinsam erinnerter Leistungen und Errungenschaften scheint eine unverwechselbare Kontur in der Geschichte auf, welche die Nation begründet und nationale Erinnerungskultur hervorruft. Darunter fallen besonders Staatsgründungen wie die des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 als historische Indizes für den herausragenden Anspruch nationalen Bewußtseins; sie prägen die Schicksalsgemeinschaft in die Zukunft gerichtet und sind später des kollektiven Erinnerns wert.

Die so skizzierte Herausbildung der Nationen aus einem geschichtlichen Konglomerat von wirklichen Völkern, Ethnien sowie deren Wanderungsbewegungen hängt stets mit Separation zusammen: Nation ist die geschichtlich gewachsene, durch eine gemeinschaftlich entfaltete Nationalkultur geprägte und durch eine Volksgemeinschaft isolierte Territorialität. Diese Definition setzt die Volksgemeinschaft voraus, verweist auf die Teilhabe des einzelnen an der in Gemeinschaft geschaffenen Nationalkultur – was zum bewußten Nationalstolz berechtigt – und charakterisiert das Verhältnis zu anderen Territorien, die von einer selbstbewußten Einheit aus Menschen bewohnt sind, als abgrenzend.

Das nationale Motiv erweist sich in dieser Partikularität als moderner Widerpart der auf Universalität zielenden Idee des mittelalterlichen Reichsverständnisses, das übernational verschiedenen Völkern einen Raum bot. Erst die Moderne löste die universelle Staatsidee ab und proklamierte in einem langen Prozeß die Berechtigung nationaler Unterschiedlichkeit und Autonomie.

Die Rede von einer Schicksalsgemeinschaft bleibt für den wirklich Konservativen dabei dahingehend problematisch, als der eher in nationalistisch denkenden Kreisen kultivierte Begriff des Schicksals der christlichen Hoffnung in die Vorsehung Gottes, die providentia Dei, entgegensteht: Nicht eine unbestimmte Kraft mit fatalistischer Konsequenz lenkt die Geschicke des Universums, der Erde, einer Nation, sondern der konkrete Wille Gottes – und dies stets zum Wohle des Menschen.

Dagegen hat der Schicksalsbegriff immer auch eine negative Spannung, hat gar als Synonym für schlechte Zeiten im alltäglichen Wortgebrauch seinen Ort. Gerade der Sinn für das Scheitern aber setzt das Schicksalsdenken in sein Recht. Eine Nation erinnert sich schließlich nie bloß glorreicher Zeiten, sondern bewahrt im Gedächtnis ihre häufig wechselvolle Geschichte und teils wenig verheißungsvollen Tage, wie jene Zeiten des Zusammenbruchs und Unglücks. Nach dem Ende des Deutschen Kaiserreichs etwa scheiterte die oberflächliche Demokratie Weimars und brachte das nationalsozialistische Unrechtsregime hervor.

Das Gedenken solcher Ereignisse prägt – und darauf kommt es an – das kollektive Gedächtnis und den Gemeinschaftssinn und hat bei allem Leid immer auch tröstenden Charakter für die Zukunft, weil es ein Weiterbestehen des Eigentlichen unter neuen Voraussetzungen bezeugt. Diese Fokussierung des Denkens auf das Schicksalhafte, bei Spengler immerhin die „lebendige Idee des Werdens“, ist eine durchaus positive Eigenart des deutschen Geistes, die den nahrhaften Humus für einen Neubeginn bereitstellt. Frucht kann das Schicksalsdenken jedoch nur tragen, wenn der einzelne seine Zugehörigkeit zur Schicksalsgemeinschaft als sein eigenes Fatum annimmt und aus ihr den Mut zum politischen Handeln schöpft.

Dieser überindividuellen Hinordnung wieder bewußter zu werden, scheint dringender geboten, als es die zunehmende Einbettung in trans- und internationale Ordnungen nahelegen könnte. So böte eine dezidierte Betonung nationalen Schicksals (siehe hierzu auch den Forum-Beitrag von Thorsten Hinz in JF 10/10) vor den bekannten politischen Problemfeldern, die radikales Umdenken abverlangen, ausreichend motivierendes Potential, müßte folglich nicht auf andere Ebenen verlagert werden, wie es die deutsche Politik zunehmend mit ihrer Verantwortungsdelegation an die Europäische Union praktiziert. Das Anerkennen der offensichtlichen geschichtlichen Verwobenheit der Bürger in der Schicksalsgemeinschaft würde anerzogene Aversionen gegen den gewachsenen Zusammenhalt innerhalb der politischen Gemeinschaft beenden. Denn anders als in der politischen Gemeinschaft, in der eine Leistung – und sei es nur die tägliche Arbeit einer Verkäuferin – zur Stabilität des Kollektivs beitragend Wert besitzt, vergeht kontextloses Handeln ohne Dauer und bleibt wertlos. Erst eine Schicksalsgemeinschaft ordnet im historischen Vollzug ihrer Existenz das Handeln auf einen höheren Sinn hin und wertet das Wirken der Menschen auf, die im Zweifel für die Nation in die Pflicht genommen werden können – und wollen.

Erst eine Schicksalsgemeinschaft ordnet im historischen Vollzug ihrer Existenz das Handeln auf einen höheren Sinn hin und wertet das Wirken der Menschen auf, die im Zweifel für die Nation in die Pflicht genommen werden können und wollen.

Diese Pflicht hat grundsätzlich existentiellen Charakter! Denn: Anders als im Staat des Leviathan, in dem das Wegrennen der Bürger im Kriegsfall noch als berechtigt galt, endet die Verpflichtung der Bürger durch die Schicksalsgemeinschaft nicht bei der Möglichkeit ihres Todes. Aus heutiger Gewohnheit – geschult in der Hochachtung der individuellen Freiheitsrechte – dürfte die Argumentation zwar auf weitverbreiteten Konsens hoffen, gefährdet aber selbst die Voraussetzung der bürgerlichen Freiheit. Die Wehrpflicht selbst verlöre ihre Berechtigung. Schließlich greift gerade der mögliche Ausnahmefall des Krieges die Bedingung der so gerne beanspruchten Freiheitlichkeit an, so daß ohnehin sämtliche Rechte des Bürgers ihre Wirksamkeit einzubüßen drohen, die ihm der Staat realiter zugesteht und notfalls sichert.

Die existentielle Dimension der Verpflichtung gibt dabei die Richtung vor, die sich heute weniger in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr konkretisiert, deren nationale Legitimation ohnehin fraglich ist, als vielmehr in einer innerstaatlich brisanten Lage zur Reaktion auffordert. Niemand wachen Verstandes würde behaupten, daß die autonome Selbstbestimmung des deutschen Volkes und Staates eine aktuelle außenpolitische Fragestellung wäre, deren Entscheidung am Hindukusch oder am Horn von Afrika kriegstechnisch herbeigeführt werden müßte, und auch die bundesrepublikanische Demokratie erweist sich glücklicherweise als institutionell gefestigt.

Unbestreitbar streben statt dessen diverse fremdländische Interessengruppen im Inneren des Staates nach Einfluß und Geltung. Sie ziehen ihre Legitimität und Motivation aus ihrer demographischen Potenz und tradieren dabei immer häufiger schwierig bis kaum integrierbare kulturelle Vorstellungen: Von der Zwangsheirat über Burkas bis hin zu ganzen Gegengesellschaften reicht das Panorama, das mittlerweile auch von Sozialdemokraten kritisch gezeichnet wird. In dieser innerstaatlichen Bedrohung spiegelt sich die politische Aufgabe, vor der die deutsche Schicksalsgemeinschaft heute steht, die wirklich souveränes Handeln der Politik fordert und gerade keine fatalistische Handlungslosigkeit gebrauchen kann. Die deutsche Volkheit, ein mittlerweile vergessenes Wort, droht derart als handelndes Subjekt aus ihrer geschichtlich erwachsenen Schicksalsgemeinschaft verdrängt zu werden.

Während der außenpolitisch bewirkte Niedergang noch einen tragischen, tendenziell wohl aber ruhmreichen Pathos besäße, der dem germanisch-deutschen Denken seit der Hermannschlacht nie fremd war (erinnert sei an die alte Rede vom Schicksalsstrom des Rheins), verlöre sich mit dem Aussterben des Schicksalsbewußtseins jedwede Sinnhaftigkeit und auch die Tragik des Verlusts, die von künftigen Generationen nur als historische Konsequenz interpretiert würde. Auch in diesem Fall wirkt der Verweis auf die Kultur wiederum als Ausflucht: Daß die Originalität des deutschen Denkens geschichtlich überdauerte, mag richtig sein, gewährte aber nur wenig Trost, wenn seine Quelle versiegte. Folgerichtig scheint der Appell gerade an die Jugend geboten, sich der eigenen nationalen Geschichte – auch anhand konkreter Personen – in einer Weise zu vergewissern, welche die Fortexistenz nicht bloß eines kulturellen Extrakts, sondern Deutschlands als lebendiger Idee für würdig hält.

 

Larsen Kempf, Jahrgang 1986, studiert seit 2008 Politik- und Sozialwissenschaften in München.

Foto: Deutsches Eck in Koblenz: Es ist Zeit für eine entschiedene Rückbesinnung auf Deutschland als Nation

1990 richteten sich die Hoffnungen der Deutschen auf freie Wahlen, die Demokratie und den Rechts- und Wohlfahrtsstaat. Das Bewußtsein, ein Volk mit gemeinsamem Schicksal und Geschichte zu sein, war für einen Wimpernschlag der Geschichte so stark wie seither nicht mehr. Zwanzig Jahre sind inzwischen vergangen. Unser Land hat sich sehr verändert. Wo stehen wir heute – als Nation in Europa? Was ist geblieben vom Zusammengehörigkeitsgefühl als Volk? Kann uns der Begriff der Schicksalgemeinschaft heute noch etwas sagen? In dieser Ausgabe beginnt eine Artikelreihe auf dem Forum, die in lockerer Folge thematisch um unser kollektives Schicksal als Nation kreist. Als Ausweg aus der evidenten Krise unseres Gemeinwesens   empfiehlt der junge Autor Larsen Kempf die Notwendigkeit einer entschiedenen Rückbesinnung auf Deutschland als Nation und das Volk als Schicksalsgemeinschaft. In JF 15/10 wird Frank Lisson auf dessen Vorstellungen eingehen.(JF)

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