© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

Im Schatten des Alten
Helmut Kohls 80. Geburtstag: Der Mann, der die CDU revolutionierte, Kanzler der Einheit wurde und den Grundstein für den Niedergang seiner Partei legte
Michael Paulwitz

Die Legendenbildung scheint abgeschlossen. Helmut Kohl, der „Kanzler der Einheit“, der „große Europäer“, der „richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Platz“ – solch rühmende Attribute werden rund um den 80. Geburtstag des Altkanzlers am 3. April noch öfter zu lesen und zu hören sein. Schon melden sich zum Mißvergnügen der Unionsspitze Jungfunktionäre, die dem Jubilar, der über zwei Jahrzehnte seine Partei und die Bundesrepublik Deutschland maßgeblich prägte, den im Zuge des Spendenskandals niedergelegten CDU-Ehrenvorsitz wieder antragen wollen. Die jungen Kreisvorsitzenden stellen ihn, ebenso wie sein früherer Minister Carl-Dieter Spranger (siehe Interview auf Seite 3), gar in eine Reihe mit Otto von Bismarck.

Es spricht für die Dürftigkeit der Zeit, daß ein Mann, dessen nach sechzehnjähriger Kanzlerschaft nicht nur die Mehrheit der Wähler, sondern auch weite Teile der eigenen Partei überdrüssig geworden waren, kaum zwölf Jahre nach seiner Abwahl zum Gegenstand mythischer Überhöhungen und nostalgischer Verklärungen wird. Nicht nur konservativen Unionsmohikanern, die die Merkelschen Säuberungen überlebt haben, erscheint die Ära Kohl rückschauend als eine Zeit, in der die CDU noch mit einigem Recht als auch konservative Partei gelten konnte – eine Reminiszenz, die das Ausmaß des rasanten Linksrutsches der Union nur um so schärfer akzentuiert.

Helmut Kohl war kein konservativer Politiker, aber er vermochte Konservative zu integrieren. Er sprach vom „deutschen Vaterland“, als das bloße Wort in den tonangebenden linken und liberalen Kreisen schon Hohn und Spott hervorrief. In Verdun mit Präsident Mitterrand und vor allem in Bitburg mit US-Präsident Ronald Reagan hat er als Spätergeborener vor den Gräbern der Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs geschichtspolitische Akzente gesetzt, für die ein CDU-Politiker heute wohl eher ein Parteiausschlußverfahren riskierte.

Meinungsmacher und Intellektuelle, gut vernetzt und links gepolt seit den „Willy wählen!“-Kampagnen der frühen Siebziger, haben ihn dafür erbittert gehaßt. Bereits sein Regierungsantritt war begleitet von hysterischer linker Legendenbildung, zugespitzt in den verächtlich machenden „Birne“-Karikaturen, die das arrogante Zerrbild eines einfältigen, rückwärtsgewandten Provinzlers zeichneten und Helmut Kohl zu einem der meistunterschätzten deutschen Politiker machten.

Tatsächlich war der schrille Alarmismus von links in der Sache kaum gerechtfertigt. Die Forderung nach „geistig-moralischer Führung“, mit der er 1976 im Duell mit Helmut Schmidt fast fünfzig Prozent geholt hatte, und das Versprechen einer ebensolchen „Wende“ hat Helmut Kohl als Kanzler nicht eingelöst. Sein Stil war pragmatisch und taktisch. Als CDU-Vorsitzender pflegte Helmut Kohl wohl konservative Milieus, die – von der noch rüstigen Kriegs- und Aufbaugeneration getragen – damals zahlenmäßig bedeutsame Stammwählerschaften bereithielten, er ließ markante konservative Aushängeschilder gewähren und auch Karriere machen; die Hoffnung, er werde sich an die Spitze einer „Tendenzwende“ (Gerd-Klaus Kaltenbrunner) stellen und die strategische Herausforderung annehmen, den Gesellschaftsveränderern einen nicht-linken Entwurf entgegenzusetzen und bereits im vorpolitischen Raum den Kampf um die kulturelle Hegemonie zu führen, hat er enttäuscht.

Daß konservative Politiker wie Alfred Dregger, Steffen Hupka oder Heinrich Lummer auf ihren Spielfeldern durchaus eine heute nicht mehr gekannte Freiheit zu markanten Wortmeldungen hatten, läßt leicht übersehen, daß die Öffnung der Union nach links unter dem Banner der „Mitte“ gerade von Helmut Kohl entscheidend vorangetrieben wurde. Der Multikulturalist Heiner Geißler, die Progressivkatholikin Rita Süssmuth, der Sozialdirigist Norbert Blüm genossen freie Hand, solange sie ihm nicht machtpolitisch in die Quere kamen. Als die berechtigte Kritik am laisser-faire in der Einwanderungsfrage zur parteipolitischen Konkurrenz zu werden drohte, übernahm die Kohl-CDU in den Neunzigern unter dem Druck der „antifaschistischen“ Linken die pauschale Diskriminierung neuer Strömungen auf der Rechten als „extremistisch“ und lud dadurch zur beschleunigten Demontage der zur vergänglichen Scheinidylle gewordenen eigenen konservativen Milieus ein.

Sein größtes Verdienst, die Realisierung der deutschen Einheit, ist Helmut Kohl durch die Gunst der Geschichte zugefallen. Dieses Verdienst wird auch durch Fehlentscheidungen wie den Betrug an den enteigneten Alteigentümern oder die ruinöse Deindustrialisierung infolge vorschneller Systemangleichung nicht geschmälert. Daß er die Bedeutung des historischen Moments erkannt, auf seine Berater gehört und die Initiative ergriffen hat, läßt auch in den Hintergrund treten, daß Helmut Kohl in den Jahren davor ernsthafte Ansätze für alternative Wege zur deutschen Einheit, etwa über eine Neutralität zwischen den Blöcken, erbittert bekämpft und wie Konrad Adenauer stets die Westbindung der Wiedervereinigung übergeordnet hatte.

Sein unbedingtes Festhalten an der „irreversiblen“ Westbindung, das ihn die Konfrontation mit den Westmächten um die volle Souveränität und Selbstbestimmung der Deutschen scheuen ließ, entsprach der inneren Überzeugung des trotz der „Gnade der späten Geburt“ vom Kriegserlebnis entscheidend geprägten bekennenden Frankophilen, der als Jugendlicher im Elsaß Schlagbäume stürmte und als Kanzler zur Symbolfigur der „alten“ Bundesrepublik wurde. Den wiedergewonnenen Nationalstaat der Deutschen hat sein Glaube, Deutschland müsse um des Friedens willen in Europa „aufgehen“, mit schweren Hypotheken belastet.

Helmut Kohl formulierte noch in den Achtzigern als sein politisches Vermächtnis, das Einschmelzen der Bundesrepublik in einem europäischen Bundesstaat solle auch nach seinem Abgang unumkehrbar sein. Die Logik der Geschichte stellt seinen Nachfolgern einen anderen Auftrag: diesen Sonderweg zu überwinden, damit Deutschland ein souveräner Nationalstaat in Europa mit eigenen Interessen und eigenem Selbstbewußtsein werden kann.

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