© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

Pankraz,
die Schwarze Pest und die Leukozyten

Seufzend las Pankraz in dem renommierten Wissenschaftsmagazin Science den Bericht eines Forscherteams der renommierten Ecole Poytéchnique von Lausanne, welches Labormäuse mit Tumorzellen der Schwarzen Pest injiziert hatte. Als die Forscher danach durchs Elektronenmikroskop blickten, stellten sie erstaunt fest, daß der Versuch offensichtlich danebengegangen war – daß gar keine tödlichen schwarzen („malignen“) Tumore in den Mäusen drin waren, sondern ausschließlich weiße Blutkörperchen, sogenannte Leukozyten, die unser Immunsystem eigens zur Abwehr von Zellzerstörern und Krankheitserregern ausgebildet hat. Wie war das möglich? Was war da passiert?

Nun, weitere Untersuchungen ergaben, daß es sich bei den beobachteten Objekten keineswegs um weiße Leukozyten handelte, sondern sehr wohl um jene schwarzen Aggressoren, mit denen man soeben die armen Mäuse geimpft hatte. Nur – und dieses „Nur“ war dann der Anlaß für die spektakuläre Veröffentlichung in Science –, nur hatten sich die malignen Tumore als wohltätige Leukozyten „verkleidet“ (Science), und zwar so perfekt, daß es selbst den Experimentatoren zunächst entgangen war.

Und nicht nur die Experimentatoren ließen sich täuschen, sondern auch die echten, also zur Abwehr von malignen Eindringlingen abgestellten Leukozyten in den Mäusekörpern. Bei denen war die Täuschung sogar noch anhaltender und gründlicher. Jedenfalls gingen sie nicht im geringsten gegen die aggressiven Pestzellen vor, man begegnete sich vielmehr mit Gleichgültigkeit, und sämtliche mit den Zellen geimpften Mäuse verendeten bald darauf an der Schwarzen Pest: Massensterben im Laboratorium.

Der Effekt bei der Leserschaft von Science ist natürlich nicht deprimiert, sondern im Gegenteil zuversichtlich und gutgelaunt. Sofort schießt nun – wieder einmal – die Hoffnung empor, der Wissenschaft könnte es endlich gelungen sein, den Weg für eine definitive Krebsdiagnose und für definitive Krebstherapien freizumachen. Man müsse, so die allgemeine frohe Erwartung, den malignen Tumoren „lediglich“ die Maske herunterreißen, sie „entlarven“, ihre wahre Natur kenntlich machen. Danach könne es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis es der Pharmaindustrie gelinge, die Angreifer mit einigen wenigen chemischen Handgriffen unschädlich zu machen.

Aber noch einmal seufzt Pankraz. Der Science-Bericht ignoriert seiner Meinung nach viel zu sehr die „innere“ Ursache von Krankheiten, speziell vieler Krebserkrankungen. Er ist ganz an dem Modell „Angriff und Verteidigung“ orientiert. Da sind jenseits des Grabens die Tumorzellen, die von „draußen“ kommen und rücksichtslos angreifen und denen dabei jedes Mittel recht ist. Und da sind, diesseits des Grabens, die wackeren weißen Blutkörperchen, von Haus aus total auf den psychosomatischen Körper ausgerichtet und dazu angestellt, ihn tapfer bis zum Schluß zu verteidigen. Ist das nicht eine etwas einfache Perspektive?

Tumore sind schließlich keine schlichten Bakterien, Viren, Toxine, Pilze, bloße Dreckspuren, mit einem Wort: keine körperfremdem Partikel die man vom Eindringen in den Körper abhalten, die man davonjagen oder vernichten kann. Es sind ureigene Körperzellen wie alle anderen Körperzellen auch – gerade deshalb machen sie es den Forschern ja so schwer, ihre materielle Spezifik zu bestimmen, sofern das überhaupt möglich ist. Sie müssen sich, um einzudringen, gar nicht verkleiden, denn sie sind von Anfang an drin und gleichen den gesunden Zellen.

Was Tumore von anderen Zellen unterscheidet, ist einzig ihr Verhalten. Sie sind, wie man sich angewöhnt hat zu sagen, „entartet“, „degeneriert“. Sie weigern sich sozusagen, ihren Dienst für das Ganze ordentlich zu verrichten, es sind (Wehr-) Dienstverweigerer, überzeugte Aussteiger, sie denken nicht (mehr?) daran, sich in den Funktionszusammenhang des Körpers einzuordnen, teilen und vermehren sich ohne Rücksicht auf die umliegenden Gewebe. Glücklicherweise sind die meisten von ihnen „gutartig“, richten keinen weiteren Schaden an, sondern machen es sich in einer Körpernische gemütlich.

Bösartige“, maligne Tumorzellen hingegen bedrängen und stören die Nachbarzellen nicht nur, sondern sie vergiften sie regelrecht, legen deren angestammte Funkion lahm und treiben sie zu blindwütiger Vermehrung, ganz so, wie sie es „bei sich selbst“ gelernt haben. Kriminalisieren aber darf man sie deshalb eigentlich nicht. Denn das, was sie hervorbringt, ist nichts anderes als das große Gesetz der Evolution und des Lebens, nämlich die Mutation, die man zwar bei ihnen „Degeneration“ nennt, die sich jedoch in nichts von anderen Mutationen unterscheidet.

Man weiß nicht, wo die Mutation herkommt, und dasselbe gilt für die Degeneration. Auch „gutartige“ Mutationen sind im Grunde Degenerationen, verändern das gewohnte leibgeistige Körperschema, nur geht ihnen auf halbem Wege die mutative Puste aus, und sie geben sich mit ihrem Privatzoo innerhalb des gegebenen Körpers zufrieden. Kraftvollere Mutationen führen entweder zu selektiven Vorteilen und verändern die Art – oder sie töten die von ihnen befallenen Individuen und verändern die Art damit langfristig ebenfalls. Das sind dann die Krebszellen.

Krebszellen streuen Tod aus, doch es sind durchaus Agenten des Lebens, sogar besonders brutale und wirkungskräftige. Selbstverständlich muß man sie mit Leidenschaft bekämpfen, soll also auch sehr genau nachsehen, welche Keime eventuell von draußen angeweht kommen, und man soll solche Eindringlinge nach Möglichkeit abtöten. Krebsforschung tut not, dafür stehen nicht zuletzt die naturgegebenen weißen Blutkörperchen, Sinnbild des Widerstands und des Beharrungsvermögens jeglicher lebendiger Kreatur.

Eines aber muß man sich klarmachen: Der Krebs selbst sitzt innen. Er ist kein falsches Kleid, sondern er gibt ziemlich genau darüber Auskunft, wie es um uns als einzelnem und um das Ganze bestellt ist.

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