© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

Jahrzehntelanges Lügenkomplott
Vor siebzig Jahren wurden auf Geheiß Stalins viele tausend polnische Kriegsgefangene in Katyn und anderen Orten ermordet
Andrzej Madela

Die Dienstmitteilung 794/B vom 5. März 1940 fällt denkbar knapp aus. Der Volkskommissar für Inneres berichtet darin dem Zentralkomitee über polnische Kriegsgefangene und Inhaftierte im Staatsgebiet der UdSSR. Dabei nennt er exakte Zahlen: 14.736 gefangene Offiziere und 18.632 Inhaftierte (darunter 1.207 Offiziere). Angesichts deren „hoffnungslos verstockter und erklärtermaßen sowjetfeindlicher Haltung“ hält es Lawrentij Berija für geboten, 14.700 Offiziere und 11.000 Haftinsassen (ohne Ermittlung, Vorladung, Anklage bzw. Stellungnahme zur selbigen) exekutieren zu lassen und die Prüfung der einzelnen Sachverhalte sowie diesbezügliche Entscheidungsbefugnis der NKWD-Troika Berija, Kobulow und Baschtakow zu übertragen.

Die Mitteilung erreicht Stalin, der Berija streicht und durch Wsewolod Merkulow ersetzt und die Vorschläge durch seine Unterschrift genehmigt. Premier Wjatscheslaw Molotow, sein Stellvertreter Anastas Mikojan und Verteidigungsminister Kliment Woroschilow zeichnen gegen. Zu den vier eigenhändigen Unterschriften kommen zwei Annotationen: „Kalinin – dafür“, „Kaganowitsch – dafür“. Damit wird die Tatplanung ein kollektiv legitimiertes Unternehmen, an dem sich die gesamte Sowjetführung beteiligt. Am 22. März erläßt der Volkskommissar den Befehl 00350 „Über die Entlastung von NKWD-Gefängnissen Weißrußlands und der Ukraine“. Die Aktion selbst läuft am 3. April 1940 an und kommt am 16. Mai zum Abschluß.

Mittlerweile kennen die Historiker die Totenzahlen genau: die 6.314 Offiziere aus dem Lager Ostaschkow – erschossen in Twer. Die 3.739 Mann aus Starobielsk – in Charkow. Die 4.410 Gefangenen aus Kozielsk – in Katyń bei Smolensk. Hinzu kommen die – erst seit wenigen Jahren bekannten und nur zum Teil erforschten – 3.400 Massengräber in Bykownia bei Kiew (JF 34/06) sowie in Kuropaty bei Minsk (etwa 3.870 Opfer).

Als Stalin im März 1940 den Vollstreckungsbefehl gibt, steht seine willige Zusammenarbeit mit Hitler im Zenit. Er glaubt, im Zusammenspiel mit dem Deutschen Reich Polen dauerhaft neu aufgeteilt zu haben. Politisch wahrnehmbare Träger ehemaliger nationaler Unabhängigkeit und souveräner Eigenstaatlichkeit wären da ein empfindlicher Störfaktor, ihre „Entfernung“ ein Gebot der Stunde. Das mag erklären, warum sich der sowjetische Vernichtungswille vor allem gegen Offiziere, Beamte, Lehrer und Politiker richtet – eine dünne elitäre Schicht mithin, die das sinnstiftende Leben Polens bis dato formte.

Bereits im Sommer 1942 stoßen einige polnische Zwangsarbeiter vom Bauzug 2005 bei Katyń auf die ersten dort verscharrten Offiziersleichen. Moskaus ehemaliger Verbündeter macht diese Entdeckung indes erst einige Tage nach dem Desaster von Stalingrad publik. Unter dem Eindruck einschlägiger deutscher Rundfunkmeldungen ruft die polnische Exilregierung am 13. April 1943 das Internationale Rote Kreuz zu einer eigenständigen Untersuchung des Falls auf. Da sich das IRK unter sowjetischem Druck dem Anliegen verweigert, stellen die Deutschen selbst eine internationale Kommission aus 13 anerkannten Gerichtsmedizinern zusammen, an der sich auch polnische Vertreter unter Leitung von Marian Wodziński beteiligen.

Der polnische Aufruf belastet die Anti-Hitler-Koalition aufs äußerste. Am 25. April 1943 kündigt die Sowjetunion den Beistandspakt mit Polen unter dem Vorwand auf, die Exilregierung betreibe Kollaboration mit Hitler. Aus Rücksicht auf übergeordnete alliierte Interessen raten sowohl Churchill als auch Roosevelt Premier Sikorski zu Mäßigung und Zurückhaltung – und leiten damit wider besseres Wissen eine 50jährige Geschichte der koalitionären Vertuschung und Verneinung ein, die man getrost die Katyń-Lüge nennen darf.

Noch 1943/1944 stellt die Sowjet­union – ausgerechnet über den NKWD – eine eigene Untersuchungskommission zusammen und „beweist“ die deutsche Urheberschaft am Massenmord. Ganz ähnlich möchte sie beim Nürnberger Prozeß verfahren, wo sie allerdings am Widerstand der USA scheitert. Hingegen hat sie im nun kommunistischen Osteuropa Erfolg: zwischen Sofia und Ost-Berlin sind einschlägige Behauptungen mit entsprechenden Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch bewehrt. Doch auch die semantische Vertuschung greift: Mit dem forcierten Verweis auf das Massaker im weißrussischen Chatyn, wo das SS-Sonderbataillon Dirlewanger im März 1943 ein ganzes Dorf niedermetzelt, gelingt schließlich selbst in Westeuropa ein intellektuelles Verwirrspiel, das einzelne Zweifler zum Verstummen bringt.

Lebendig bleibt das Thema allerdings im Schrifttum des polnischen Nachkriegsexils in Paris, London, Washington und München, über den einflußreichen Sender Freies Europa sickert es heimlich ins unöffentliche Bewußtsein ein. In den siebziger Jahren nimmt die innerpolnische Opposition es auf und hält es seitdem – außerhalb der offiziösen Öffentlichkeit – bis zum Zusammenbruch des Ostblocks präsent.

Eine Wende tritt erst mit dem Umbruch von 1989 ein. Mitten in ihren buchstäblich letzten Zuckungen entschließt sich die Kreml-Führung im April 1990, die sowjetische Alleinschuld am Mord von Katyń einzugestehen – und sucht gleichzeitig verzweifelt nach Belegen, die die Tat rechtfertigen. Erst 1992 gelangt durch Boris Jelzin eine erste umfangreichere Dokumentation über die Vorgänge vom Frühjahr 1940 nach Warschau, werden bis dato geheime Archive geöffnet und auch polnischen Historikern zugänglich gemacht. Die neunziger Jahre entkrampfen das konfrontativ-verbissene Muster von Behaupten und Verneinen und verlagern den Schwerpunkt der Debatte von der Propaganda auf die fachgeschichtliche Forschung.

Seitdem wächst einerseits die geschichtliche Kenntnis, andererseits aber auch Rußlands dezidiert politische Abneigung, die Erschossenen als Opfer stalinistischen Terrors anzuerkennen – samt allen Rechten, die ihren Hinterbliebenen zustehen. Moskaus fürchtet dabei, wohl nicht ohne Grund, ein solcher Schritt würde das Massaker faktisch als sowjetischen Völkermord qualifizieren, dessen Ausmaß, Stoßrichtung und Durchführung kaum Zweifel an dessen totalitärem Charakter lassen. Ein rechtspolitischer Dammbruch hätte hierbei Präzedenzcharakter. Als Rechtsnachfolger der So-w­jetunion wäre das Land damit in der Haftpflicht gegenüber den immensen Entschädigungsansprüchen bei weitem nicht nur polnischer Hinterbliebener. Von ebendiesen Voraussetzungen ließ sich der russische Oberste Gerichtshof leiten, als er im Januar 2009 die Ermittlungen ausgerechnet mit dem Verweis auf „die Verjährung der Tat und den Tod der Täter“ endgültig einstellte. Zwar übt Moskau dafür neue Gesten politischer Symbolik ein – so ist etwa für den 7. April ein Besuch von Ministerpräsident Putin bei den Trauerfeierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Massakers geplant. Dies stellt zwar eine von Warschau ausdrücklich erwünschte neue Qualität russischer Verantwortung dar. Rußland wird sich aber hüten, seine neue Haltung als Versprechen etwaiger Wiedergutmachung mißverstehen zu lassen.

Fotos: Filmszene aus „Das Massaker von Katyn“ des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda von 2007: Polens Träger ehemaliger nationaler Unabhängigkeit und souveräner Eigenstaatlichkeit „entfernen“, Wehrmacht veranlaßt im März 1943 die Öffnung der Massengräber in Katyn: Anti-Hitler-Koalition aufs äußerste belastet

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