© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

Die Familie als Garant der Sozialisation und Erziehung
Potentiale werden nicht ausgeschöpft
von Jost Bauch

In archaischen Gesellschaften war der Familienverband die Institution, in der sich das gesamte soziale Leben abspielte. Alle Lebensverrichtungen wurden innerhalb der Großfamilie vollzogen. René König, einer der Gründungsväter der deutschen Nachkriegssoziologie, bezeichnete die Familie als „Grundeinrichtung der menschlichen Gesellschaft“ – ja, für ihn war die Familie noch älter als das „gesellige Leben der Menschheit“, weil der Mensch sie als „Erbteil der höheren Tierarten“ übernommen hat.

Alle sozialen Institutionen entwickelten sich aus familialen Strukturen heraus. Die Familie hatte neben ihren Kernfunktionen der emotionalen Absättigung, der biologischen Reproduktion und der Sozialisation auch ökonomische, juristische („Blutrache“) und politische Funktionen inne. Noch bis in die frühe Neuzeit hinein war beispielsweise die Politik weitgehend an die Sozialform der Familie gebunden, Machtansprüche und Loyalitäten waren familiär abgestützt. Territoriale Großreiche entstanden durch adlige Heiratspolitik.

In der Neuzeit setzte sodann ein funktionaler Differenzierungsprozeß ein: Ökonomie, Politik, Rechtsprechung und so weiter konnten an familiäre Sozialstrukturen nicht mehr zurückgebunden werden; sie entwickelten sich fortan als eigene Sozialsysteme. Damit setzte das „Zusammenschrumpfen“ der Familie auf ihre Kernfunktionen ein: emotionale Bedürfnisbefriedigung, Reproduktion und Sozialisation.

Verbunden mit dem Funktionsverlust der Familie war der Wandel zur Kleinfamilie beziehungsweise zur Ehegattenfamilie (nuclear family), die Ehe wurde privatisiert und individualisiert. Im Zentrum der Kleinfamilie steht zunächst die Intimbeziehung zweier Menschen, die sich dann um die Kinderschar erweitert. Niklas Luhmann hat in seinem soziologischen Klassiker „Liebe als Passion“ beschrieben, wie sich in einer gut dreihundertjährigen Entwicklung die Liebessemantik durchgesetzt hat, bis man im späten 18. Jahrhundert damit begann, Ehe (und Familie) auf Liebe und nur auf Liebe zu gründen. Es mag auch in der Moderne alle möglichen Gründe für Familiengründungen geben – ausschlaggebend ist die Liebe als (fragiles) Fundament der Paarbeziehung.

Im Rahmen dieser privatistischen „Kontraktion“ der Ehe und Familie sind ihr im wesentlichen nur zwei Funktionen geblieben: die Absättigung der Intimbedürfnisse und die Sozialisation und Erziehung der Kinder. Gerade die Funktion der Sozialisation innerhalb der Familie ist für die Gesellschaft von außerordentlicher Bedeutung. Die Familie hat hier die Funktion der „Reproduktion der menschlichen Charaktere“ (Max Horkheimer) oder, mit René König gesprochen, sie ermöglicht „den Aufbau der sittlichen Persönlichkeit“, die „zweite Geburt des Menschen als sozial-kulturelle Persönlichkeit“.

In modernen Gesellschaften nun ist diese sozialisatorische Funktion der Familie selbst stark gefährdet. Denn Voraussetzung für gelingende Sozialisation sind relativ stabile Familienstrukturen, die auch über das Potential verfügen, die sozialisatorischen Grundleistungen zu erbringen. Durch Zeiterscheinungen der Moderne ist die Familie in vielen Fällen heute nicht mehr in der Lage, diese Grundleistungen zu produzieren: Ehen werden geschieden, Vater und Mutter sind zu Erwerbsarbeit gezwungen, Alleinerziehende sind überlastet durch mehrere Rollen, Patchwork-Familien oft nicht dauerhaft, die Lebenswelten von Kindern und Erwachsenen entzerren sich, so daß die Rest-Familie keinen Lebensschwerpunkt mehr darstellt.

So müssen gesellschaftliche Institutionen in die Bresche springen, um familiale Sozialisationsdefizite auszugleichen. Doch Kindergarten und Schule, Sozialarbeit und Sozialpädagogik sind strukturell überfordert, diese traditionelle Familienfunktion zu übernehmen. Alles spricht dafür, daß sozialisatorische familiale Grundleistungen nur unzureichend durch andere Institutionen ersetzt werden können. Dies erklärt, warum in heutiger Zeit Bildungseinrichtungen wie die Schule überfordert und professionelle Erzieher permanent ausgebrannt sind.

Um die besondere Stellung der Familie für die gesellschaftliche Reproduktion zu erfassen, muß zwischen Sozialisation und Erziehung unterschieden werden. Sozialisation ist ein Prozeß, der sich von alleine, gleichsam automatisch da vollzieht, wo Menschen kommunizieren. Sie läuft in jedem sozialen Zusammenhang mit und ist bedingt durch die strukturelle Kopplung von Kommunikation und Bewußtsein. Sozialisation verläuft meistens unbewußt, vollzieht sich hinter dem Rücken der Akteure. So schnappen Kinder Redewendungen auf, kopieren Verhaltensweisen, ohne daß jemand dies als pädagogische Übertragungsleistung geplant hätte.

Sozialisation findet immer und automatisch statt – besonders da, wo Kinder und Jugendliche ihren Lebensmittelpunkt haben. Das unterscheidet Sozialisation grundlegend von allen Formen der Erziehung, die planvoll gestaltet sind und immer eine Person oder Instanz unterstellen müssen, die die Intention der Erziehung innehat und zielgerichtet und zweckbestimmt einen anderen Menschen verändern will.

In der Familie erfolgt beides: sehr viel Sozialisation und gezielte Erziehung, wobei die sozialisatorischen Effekte überwiegen. Bis in spätfeudale Gesellschaften war die Übertragungsleistung des Sozialen im wesentlichen über Sozialisation geregelt. Die Lebens- und Lernräume waren nicht getrennt; in der vorwiegend agrarischen Produktion, wo die Produktion noch an das Haus gebunden war, liefen die Kinder „zwischen den Beinen“ der Erwachsenen mit und guckten sich die Verhaltensweisen ab. Es handelte sich um „orale Gesellschaften“, und mit dem Spracherwerb mit sechs bis acht Jahren galten die Kinder als vernunftfähig und erwachsen.

Bis heute ist es in der katholischen Kirche Brauch, die Kinder um das achte Lebensjahr zur Erstkommunion zu führen – ein Relikt aus der Zeit, als Kinder mit diesem Alter als erwachsen galten.

Das änderte sich mit der Aufklärung und der „Verschriftlichung“ der Gesellschaft. Jetzt wurde die Kindheit zu einer eigenen Lebensphase, da die vormals „kleinen Erwachsenen“ die Kulturtechnik des Lesens und Schreibens erlernen mußten. Dies konnte man nicht der eher zufälligen Sozialisation überlassen, das wurde nunmehr Sache der Erziehung und der neuen Wissenschaft von der Pädagogik.

Jetzt wurde von Rousseau in seinem „Emile“ der Eigenwert der Kindheit propagiert, und John Locke formulierte in seinen „Some thougts concerning education“ das „Tabula rasa“-Prinzip, wonach die menschliche Seele ein unbeschriebenes Blatt sei, aus der die Erziehung alles machen könne, was sie wolle. Der Mensch erschien durch Erziehung als unbegrenzt formbar. Das Kind wurde pädagogisch umstellt, und dies um so mehr, je mehr die Familie Sozialisations- und Erziehungsfunktionen an sekundäre Sozialisations- und Erziehungsinstanzen wie die Schule abtreten mußte.

Gab es in den Familien zumeist eine gesunde Mischung aus Sozialisation und Erziehung und konnten gesellschaftliche Erziehungsinstanzen wie die Schule auf diesen Fundus aufbauen, so wird in der Moderne durch den Funktionsverlust der Familie in Sachen Sozialisation alles Erziehung. Bereits in den siebziger Jahren stellte Hartmut von Hentig fest, daß die Kindheit pädagogisch totalisiert werde, sie zur „Kinder-Kindheit“ werde; alle Bezugspersonen wenden sich an das Kind in „pädagogischer Attitüde“, der Nachwuchs befindet sich in einem hermetisch abgeschlossenen pädagogischen Raum.

Wahrscheinlich funktioniert Erziehung in modernen Gesellschaften nicht mehr, nicht weil zu wenig, sondern weil zu viel erzogen wird. Wie der Geldwert durch inflationäre Geldmenge sinkt, so sinkt die Prägewirkung der Erziehung durch ihr Überall-verbreitet-Sein. Den sekundären Erziehungssystemen gelingt es immer weniger, die beabsichtigte Einflußnahme auf die Gesamtpersönlichkeit – im Sinne von René König – zu gewährleisten. Die Sozialisationsdefizite der modernen Familie können selbst durch die größten Anstrengungen von sekundären Erziehungssystemen nicht kompensiert werden.

Dies ist nicht weiter verwunderlich, leistet die Familie doch etwas, was in keinem anderen Sozialsystem sonst geleistet werden kann. Die Familie leistet, in der Sprache der Systemtheorie ausgedrückt, eine „reziproke Komplettberücksichtigung“ der Person: Der Mensch als Ganzes geht in das Familiensystem ein, er wird umfassend und vollständig eingeschlossen. Das unterscheidet Familie von allen anderen Sozialsystemen, für die die Personen nur jeweils ausschnitthaft von Interesse sind. Sie interessieren sich für bestimmte Leistungen eines Menschen: für seine Arbeitsfähigkeit oder seine kognitiven Fähigkeiten – alle anderen Aspekte der Person werden mehr oder weniger ausgeblendet.

In der Familie dagegen sind alle Facetten eines Menschen von Interesse, alles, was ihn betrifft, betrifft auch die ganze Familie. Diese Totalannahme kann auch vor Normabweichungen anderer Personen innerhalb des Familienverbandes nicht haltmachen.

Die moderne Familie weist deswegen Sozialisationsdefizite auf, weil sie den Anspruch auf Komplettberücksichtigung insbesondere der Kinder nur noch unzureichend erfüllen kann. Da in der Regel Vater und Mutter in den Arbeitsprozeß integriert sind, müssen sie schon aus Gründen der zeitlichen Belastung die Kindererziehung in den Hintergrund stellen.

Verschärft wird die Situation bei Alleinerziehenden, welche die Komplettberücksichtigung des Kindes und das Arbeitsverhältnis unter einen Hut bringen müssen: Wie sollen diese sich dem Kind in seiner ganzen Persönlichkeit und seinen Bedürfnissen noch nach Dienstschluß widmen – ausgelaugt, selbst ruhebedürftig?

Man kann die Komplettberücksichtigung auch an Tagesmütter delegieren und ersetzt die erforderliche emotionale Bindung durch Geldzahlungen, wobei fälschlicherweise unterstellt wird, daß man sie kaufen könne. Oder aber man gibt das Kind frühzeitig an Kinderkrippen oder Kindergärten. Sinnvoll ist das nur, wenn diese Institutionen die Komplettberücksichtigung von Vater und Mutter ergänzen, nicht ersetzen. Wenn man allerdings glaubt, in diesen Institutionen könne die ausgebliebene Zuwendung in der Familie kompensiert werden, dann sitzt man einem nachhaltigen Irrtum auf. Alleine schon durch die Kinderzahl ist in diesen Einrichtungen keine Berücksichtigung der Person als Ganzes des einzelnen Kindes möglich, auch wenn sich die Erzieherinnen alle erdenkliche Mühe geben. Die Komplettberücksichtigung ist eben nur im Familienverband möglich.

Die Formung der Person als Ganzes kann nur unter den Bedingungen der Komplettberücksichtigung erfolgen. Diese ist Grundvoraussetzung für eine gelingende familiäre Sozialisation, die durch nichts ersetzt werden kann, und ist eine wesentliche Bedingung für die Reproduktion der Gesellschaft. Es gilt, die sozialisatorische Funktion der Familie wieder zu stärken; die aktuellen Probleme der Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen, der Drogen- und Alkoholmißbrauch, Leistungsverweigerung und Orientierungsprobleme rufen danach. Abschließend ließe sich noch vermerken, daß man durchaus die traditionelle Familienform mit Vater, Mutter, Kindern als gesellschaftlichen Normalfall stärken kann, ohne andere Lebensgemeinschaften zu diskriminieren.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Auf dem Forum schrieb er zuletzt in der JF 39/09 über Adam Smith und den gezügelten Kapitalismus.

Foto: Veränderungen des Familenbildes über Generationen:Zum Schluß bleibt kein Stein auf dem anderen

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