© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Die ganze Stadt ein Tollhaus
Reigen des Abscheulichen: Dekadenz ist keine Erfindung der Spaßgesellschaft
Claus-M. Wolfschlag

Dekadenzkritik, wenngleich in historischem Gewand, ist derzeit in der Kunsthalle Darmstadt zu sehen. Gezeigt werden etwa 150 druckgraphische Werke des englischen Satirikers William Hogarth.

Hogarth (1697–1764) gilt als Vorläufer der modernen Karikatur. Der Maler und Kupferstecher wurde in London als Sohn eines verarmten Lateinlehrers geboren. Frühzeitig zeigte er sich desinteressiert an stupider Auftragsarbeit und schlug eine kreative Laufbahn ein. Seine Motive fand er zumeist in Londoner Straßen- oder Gesellschaftsszenen, mit denen er spöttisch die mentalen Mißstände seiner Zeit offenlegte: Verwahrlosung, sittlicher Verfall, ein genußsüchtiger Adel, ein moralisch verrohtes Volk, Mißwirtschaft und Geldmangel.

Der Chronist seiner Zeit offenbart, daß das Phänomen der Dekadenz, unter dem er ganz offensichtlich litt, nicht nur eines unserer Gegenwart ist, sondern beispielsweise auch in der Zeit des Rokoko, den Jahren vor dem Sturm der Französischen Revolution, für sensible Gemüter augenfällig war.

Die Darmstädter Schau zeigt zahlreiche der bekannten Kupferstich-Zyklen des Meisters. In der Serie „Marriage á la Mode“ (Hochzeit nach dem Zeitgeschmack) von 1745 erkennt man, wie damals kommerzielle Interessen und Vertragshändel die Eheschließungen überlagerten. Auf das Geschäft mit der Zweckheirat folgt bald „Der Tod des Grafen“. Das Bild zeigt einen Adeligen, der soeben einen Herzanfall erleidet und dessen Säbel zu Boden sinkt. Die erschrockene Dienerschaft stürmt ebenfalls in das Schlafzimmer der Gattin, während deren Liebhaber im Nachthemd soeben durch das Fenster in die Nacht entschwindet. In der Serie „Stufen der Grausamkeit“ von 1751 zeigt Ho-garth, welche Freude Menschen an Tierquälerei empfinden können. Man sieht aufgehängte Katzen, einen vor Schmerz jaulenden Hund, dem ein Pfeil im After steckt, gefangene Vögel, denen vom belustigten Pöbel die Augen ausgestochen werden.

Die Prügelattacken gegen Pferde und Schafe leiten über zum Endpunkt der Grausamkeit: einem weiblichen Mordopfer, das von Passanten entdeckt wird. So zieht sich der Reigen menschlicher Tragik und Abscheulichkeit durch Ho­garths Kupferstiche. Man sieht Personen fast zu grotesken Fratzen verzerrt, etwa die „Scholaren im Unterricht“ oder die „Versammlung der Totengräber“ von 1736. „Der aufgebrachte Musiker“ (1741) beschwert sich über den Straßenlärm, während der „Notleidende Dichter“ (1740) von seiner Kunst nur kärglich leben kann.

Man begegnet den Stätten niederer Volksbelustigung: Jahrmarktsszenen, Hahnenkampfplätze, Spielsalons, die Bühnen von Wanderschauspielern. Immer wieder stößt der Betrachter auf Betrunkene, vom Schnaps verzehrt oder fett vom Bier, die in Wirtshäusern zum Beispiel „Moderne Mitternachts-Konversation“ (1733) betreiben. Auf Straßen sieht man benommene Bettler, unbeaufsichtigte Kinder, die Unfälle erleiden, Aussätzige, Tote. Wohnungen von „Liederlichen“ fallen durch ihre Unordnung auf.

Es bedarf eigentlich gar nicht noch des skurrilen Blicks ins Innere einer Irrenanstalt – die ganze Stadt scheint ein dekadentes Tollhaus geworden. Es sind Szenen, moralische Lehrstücke, die, auch wenn ihre barock Drastik uns heute fremd erscheinen mag, im Kern auch in der Gegenwart wiederzufinden sind.

So scheint auch seine Kritik des Parlamentarismus nichts an Aktualität eingebüßt zu haben: Dem „Stimmenfang“ von 1757 mit allerlei Münzen folgt der „Triumphzug des Abgeordneten“ von 1758. Doch die Sänfte des Wahlsiegers gerät während des Umzugs inmitten der Volksmenge in bedrohliche Schieflage, beginnt zu kippen. Affen und Bären schauen dem Geschehen belustigt zu, Schweine fliehen über die Gasse, einer desinteressierten feinen Gesellschaft wird derweil von Dienern das Essen serviert.

Flankiert wird die Hogarth-Schau durch zeitgenössische Originalgraphiken des 1939 geborenen, in Darmstadt lebenden Künstlers Leo Leonhard. Die Bleistift- und Farbkreide-Zeichnungen widmen sich Werken des hessischen Theaterdichters Georg Büchner: „Leonce und Lena“, „Woyzeck“ und „Der Hessische Landbote“. So qualitativ hochwertig sich Leonhards altmeisterlich ausgeführte Arbeiten auch präsentieren – der Bezug zwischen den Werken des deutschen Vormärz-Dichters Büchner und des barocken englischen Gesellschaftskritikers Hogarth wirkt politisch konstruiert. So sollte man statt von einer eher von zwei durchaus sehenswerten Ausstellungen sprechen, deren Exponate stark vermischt in denselben Räumlichkeiten präsentiert werden.

Die Doppelausstellung „Work on Progress. Satiren von William Hogarth“ und „Leo Leonhard. Bücher und andere Dramen“ kann noch bis 9. Mai in der Kunsthalle Darmstadt, Steubenplatz 1, besucht werden. Geöffnet ist Dienstag bis Freitag von 11 bis 18 Uhr, Samstag und Sonntag bis 17 Uhr. Der Eintritt kostet 4 Euro.

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