© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Besinnung auf eine Kultur des Maßes
Paul Kirchhof mahnt in seinem jüngsten Buch einen geistig-politischen Neustart an, um das zerbrochene Vertrauen nach der Finanzkrise wieder aufzubauen
Klaus Motschmann

Gerechtigkeit ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der Probleme menschlicher Daseinsgestaltung seit über dreitausend Jahren. So erklärt es sich, daß er in dieser Zeit sehr unterschiedlich, ja völlig widersprüchlich definiert worden ist. Wir sprechen von gerechtem Frieden, gerechten Verträgen und gerechten Zöllen; wir fordern im Alltag gerechte Löhne, gerechte Preise, gerechte Strafen, gerechte Urteile. Minister geloben beim Amtsantritt, „Gerechtigkeit gegenüber jedermann zu üben“. Doch was ist Gerechtigkeit?

Nur noch wenige Experten in Wissenschaft und Politik verfügen über den notwendigen Durchblick durch die vielschichtigen politischen, rechtlichen und sozialen Probleme. Zu ihnen gehört der Verfasser des Buches „Das Maß der Gerechtigkeit“, der langjährige Bundesverfassungsrichter und designierte Finanzminister 2005 für das Kabinett Merkel Paul Kirchhof.

Auch Finanzexperten geben inzwischen offen zu, daß die Abläufe auf den Finanzmärkten nicht mehr erklärbar und dem Volk kaum noch zu vermitteln sind. „Der Finanzmarkt ist undurchschaubar geworden; er hat sich der Herrschaft des Menschen und seiner Verantwortlichkeit entzogen“ – und damit erheblich an Vertrauenswürdigkeit verloren.

Damit wird aber eine der wichtigsten Grundlagen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erheblich beeinträchtigt: das Vertrauen (lat. credere/Kredit). Wir haben seit Jahrzehnten aus gutem Grund darauf vertraut, daß „ein Stückchen Papier, das den Aufdruck 5 oder 10 oder 20 Euro trägt, von den Produzenten, Dienstleistern und Institutionen akzeptiert wird und uns dafür jederzeit die individuellen Wünsche an Waren und Dienstleistungen berechenbar erfüllt werden“. Dieses „Einlösungsversprechen“ stützt sich auf die langen Erfahrungen in der Rechtsgemeinschaft. Allerdings werden nun auch die Erfahrungen wieder bewußt, daß durch Krieg und Inflation (1922/23, 1945 bis 1948) dieses Versprechen nicht eingelöst werden konnte, was das Vertrauen in den Staat schwer erschüttert hat.

Manche Zeichen der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung erschrecken in dieser Hinsicht. Mit Sorge wird registriert, daß der Staat diese Entwicklung durch seine Finanz- und Steuerpolitik nicht nur nicht bremst, sondern durch eine stetige Verschuldung befördert. Die Verluste und Risiken haben inzwischen eine Summe erreicht, die für die betroffenen Menschen unvorstellbar ist und demzufolge eine verbreitete fatalistische Stimmung in unserem Volk erzeugt. Der praktische Verstand, die über Jahrzehnte hinweg praktizierte Sicherheit wird mehr und mehr außer Kraft gesetzt, „weil wohlklingende Bankprodukte glänzende Gewinne versprachen, erhöhte Risiken hohe Renditen zur Folge hatten und eine abenteuerliche Risikobereitschaft den Glanz ungeahnten Wachstums. Geschäftsgrundlage war das Nichtwissen. Neben die Rationalität einer Wissensgesellschaft trat ein Erwerb aus Vermutung, Wagnis, Unvorhersehbarem.“

Noch immer, allerdings immer weniger werden Hoffnungen auf staatliche Interventionen gesetzt. „Doch der Staat ist hoch verschuldet. Er hat deshalb kein Geld, das er den Banken geben könnte. Er kann, will er nicht weiter Kredite aufnehmen, nur die Sicherheit des zukünftigen Steueraufkommens bieten: Ein Garantieversprechen zu Lasten zukünftiger Steuerzahler.“ Es bedarf keiner besonderen Begründung, warum der Staat und die politisch maßgebenden Kräfte immer mehr an Vertrauen verlieren, wenn sie die berechtigten Hoffnungen des Volkes auf die Leistungsfähigkeit der nachfolgenden Generation setzen.

Die teilweise sehr harten – weil realistischen – Diagnosen Kirchhofs dürfen jedoch keinesfalls als ein Beitrag zu dem vorherrschenden Lamento über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland verstanden werden. Ganz im Gegenteil! „Dieser Tiefpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung bietet eine großartige Chance: die Besinnung auf eine Kultur des Maßes.“ Dazu gehört die Einsicht, daß alle Bemühungen um eine gerechte Lösung der anstehenden Probleme bislang vergeblich waren. Sie sollten auf finanziellem und gesetzlichem Weg erreicht werden, was nach allen Erfahrungen der Geschichte nicht gelingen kann.

Man fühlt sich an den Versuch erinnert, Durst mit Meerwasser zu löschen, was bekanntlich nicht möglich ist, sondern immer weiteren und größeren Durst verursacht. Gerechte Lösungen sind nur möglich, wenn das Recht „anschaulich, volkstümlich und einprägsam vermittelt wird und überzeugen muß, das es im Einklang mit den bestimmenden Rechtsauffassungen steht“. Das ist heute vielfach nicht mehr der Fall und wird insofern häufig als ungerecht empfunden. Die vielzitierte „strikte Einhaltung und volle Anwendung“ des Gleichheitsprinzips kann sehr ungerechte Entscheidungen zur Folge haben. Eine lateinische Spruchweisheit lautet: „summum ius, summa iniuria“ (das größte Recht kann das höchste Unrecht sein). Umfassende Belege hat die Geschichte geliefert.

Es mehren sich die Stimmen, die von der Notwendigkeit einer geistig-politischen Wende sprechen, unter anderem auch die Bundeskanzlerin – doch Wende wohin und auf welchem Weg? Die überzeugende Antwort bietet dieses Buch von Paul Kirchhof.

Paul Kirchhof: Das Maß der Gerechtigkeit. Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht! Droemer Verlag, München 2009, gebunden, 431 Seiten, 19,95 Euro

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