© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Volkswirtschaftliches Minusgeschäft
Meilensteine der bundesdeutschen Einwanderungsgeschichte, Teil I: Die Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitnehmer
Michael Paulwitz

Mit den Anwerbeabkommen fing alles an: Regelrecht hineingestolpert ist die junge Bundesrepublik in die millionenfache Einwanderung ausländischer, vor allem türkischer Arbeitnehmer. Was als Entgegenkommen gegenüber den Wünschen einiger Partnerstaaten und den Interessen von Wirtschaft und Unternehmen begann, sollte Staat und Gesellschaft der Deutschen dauerhaft umkrempeln und zum gigantischen volkswirtschaftlichen Minusgeschäft werden.

Vor einem halben Jahrhundert, am 29. und 30. März 1960, schloß die Bundesrepublik Deutschland die ersten Anwerbeabkommen mit Staaten außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ab: Spanien und Griechenland. Fünf Jahre nach dem Beginn der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer im EWG-Gründungsmitglied Italien war damit das Tor offen für das folgenschwerste aller Anwerbeabkommen, das anderthalb Jahre später, am 31. Oktober 1961, in Bad Godesberg mit der Türkei unterzeichnet wurde. 1963 und 1964 folgten weitere Abkommen mit Marokko und Portugal, den Abschluß bildeten 1965 und 1968 Tunesien und Jugoslawien.

Nato forderte diplomatische Tauschgeschäfte von Bonn

Das Wirtschaftswunder lief in den Sechzigern bereits auf höchsten Touren, der Wiederaufbau war längst abgeschlossen; daß man die „Gastarbeiter“ dafür benötigt habe, ist ein längst widerlegter Mythos. Die Abkommen entsprangen anderen Interessenlagen. Allen Vereinbarungen lagen „diplomatische Tauschgeschäfte“ zugrunde, wie Heike Knortz in ihrer gültigen Studie herausgearbeitet hat (Köln 2008): Die Initiative ging jedesmal von den Entsendeländern aus, die sich davon eine Verbesserung ihrer Zahlungsbilanz durch die Rücküberweisungen der Arbeitnehmer in die Heimat, die Lösung akuter sozialer und Arbeitsmarktprobleme und nachhaltigen Nutzen von der Heimkehr weiterqualifizierter „Gastarbeiter“ versprachen. Bedrängt von europäischen und Nato-Partnern, gab die Bundesregierung trotz aller Bedenken der Sozial- und Arbeitsmarktpolitiker jedesmal nach (JF 43/08).

Um dauerhafte Auswanderung ging es anfangs weder den Anwerbern noch den Entsendestaaten, geschweige denn den ausländischen Arbeitnehmern selbst. Die Verträge sahen ursprünglich die Anwerbung lediger, kinderloser Arbeitnehmer vor, die nach dem „Rotationsprinzip“ nach zwei Jahren wieder in die Heimat zurückkehren und durch frische Arbeitskräfte ausgetauscht werden sollten.

Diese Prämissen sollten sich nach dem Abschluß des Doppelabkommens von 1960 bald als obsolet erweisen. Waren unter dem Italien-Abkommen bis 1959 nicht einmal 50.000 ausländische Arbeitnehmer nach Deutschland gekommen, stieg die Zahl in den sechziger Jahren sprunghaft an: Bereits 1964, nach dem Portugal-Abkommen, wurde in Köln-Deutz ein Portugiese als „einmillionster Gastarbeiter“ vom Arbeitgeberverband mit Gastgeschenk  begrüßt.

Die Wirtschaft hatte nämlich inzwischen Gefallen an der neuen „industriellen Reservearmee“ gefunden: Das große Angebot an ausländischen Arbeitnehmer erlaubte die Abwehr von Gewerkschaftsforderungen nach höherem Lohn für knappe Arbeit und das Aufschieben notwendiger Rationalisierungsinvestitionen zugunsten schneller Profite. Folglich wollte man die einmal angelernten Arbeitskräfte dauerhaft behalten. 1964 wurde das Rotationsprinzip in einem Zusatzabkommen mit der Türkei auch auf deren Drängen stillschweigend außer Kraft gesetzt; aus demselben Grund wurde die anfangs strikte Absage an jeden Familiennachzug Schritt für Schritt aufgeweicht.

Solange die Beschäftigungs- und Abgabenzahlerquote der ins Land geholten Arbeiter höher war als die der Einheimischen, schien alles gutzugehen. Das Schneeballsystem platzte nach der Rezession Ende der sechziger Jahre, die maßgeblich von dem mit der Gastarbeiterbeschäftigung verbundenen Modernisierungsstau mitausgelöst wurde, und nach der Ölkrisen-Rezession, als die Arbeitslosenzahlen sprunghaft anstiegen und die Bundesregierung daraufhin am 23. November 1973 schließlich den generellen Anwerbestopp verfügte.

Bis zu jenem Zeitpunkt hatten insgesamt vierzehn Millionen Menschen aufgrund der Anwerbeabkommen zeitweise Arbeit in Westdeutschland gefunden; zweieinhalb bis drei Millionen „Gastarbeiter“ – und Gastarbeitslose – hielten sich noch in der Bundesrepublik auf. Die größte Gruppe stellten seit 1972 die Türken mit rund 712.000 Registrierten, gefolgt von etwa 600.000 Spaniern und 400.000 Griechen. Die Angehörigen der beiden letztgenannten Nationen kehrten in der Folgezeit zu einem großen Teil in die Heimat zurück, verstärkt seit dem Ende der Franco-Herrschaft in Spanien 1975 und der Militärdiktatur in Griechenland. Diejenigen, die im Lande blieben – seit Ende der Achtziger zählt man noch gut hunderttausend Spanier und 270.000 Griechen, die nicht eingebürgert wurden –, integrierten sich meist reibungslos.

Familiennachzug ist bis heute das Haupteingangstor

Die türkischen Arbeitsmigranten richteten sich dagegen überwiegend auf Dauer ein. 1974 wurde ein weitergehendes Recht auf Familiennachzug festgeschrieben. Für Türken ist das bis heute das Haupteingangstor; ihre Zahl verdoppelte sich bis Ende der Siebziger auf knapp anderthalb Millionen. 1993, zwanzig Jahre nach dem Anwerbestopp, zählte man trotz halbherziger „Rückkehrförderung“ in den Achtzigern 1,8 Millionen Türken. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten blieb annähernd konstant, die Sozialhilfe- und Arbeitslosenquoten vervielfachten sich.

„Schon die Gastarbeiter in den sechziger Jahren waren von Anfang an arbeits- und sozialrechtlich gleichgestellt, erhielten also Tariflohn, Arbeitslosengeld und -unterstützung, Kinder- und Wohnbeihilfe, Bafög, ärztliche Betreuung – das volle Programm“, konstatiert Siegfried Kohlhammer im aktuellen Merkur und kommt zu dem Schluß, das Gastarbeiterprogramm sei zwar für die Privatwirtschaft ein Erfolg gewesen, „nicht aber gesamtwirtschaftlich, da die Folgekosten die Gewinne schließlich übertrafen“. Zu diesen Kosten zählen auch erhöhte Ausgaben für Infrastruktur, Sozialapparate und Integrationsindustrien, die dem Steuerzahler bis heute unverdrossen aufgebürdet werden. Eine volkswirtschaftliche Gesamtbilanz der Anwerbeabkommen hat bis heute niemand aufzustellen gewagt. Sie würde angesichts des Ausmaßes dieses Minusgeschäfts vermutlich blankes Entsetzen hervorrufen.

Foto: Türkische Gastarbeiterfamilie im Ruhrgebiet in den siebziger Jahren: Auf Druck der Wirtschaft Familiennachzug durchgesetzt

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