© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

300 Jahre englischer Landschaftsgarten
Symbol nationaler Freiheit
von Heinz-Joachim Müllenbrock

Die europäischen Länder tun sich heute schwer damit, ihren früher selbstverständlichen Nationalstolz zu bekunden. Wofür steht England derzeit? Weist es noch ein nationales Selbstbild auf, das traditionsstiftend fortwirkt? Wie erscheint es in den Augen des Auslandes? England, das seinen Nationalstolz stärker als andere Länder bewahrt hat, kann Pionierleistungen vorzeigen, auf deren kontinuierliches Fortwirken es mit Genugtuung blicken darf.

Den Fußballsport wird man trotz des historischen Erstgeburtsrechts allerdings kaum noch als englisches Spezifikum verorten; jedoch gibt es ein Phänomen, das man unmittelbar mit dem Namen Englands verbindet, denn schon rein terminologisch verrät es insularen Ursprung: den englischen Landschaftsgarten. Dieses kulturelle Muster besticht durch seine ungebrochene ästhetische Anziehungskraft, weist aber zugleich einen politischen Einschlag auf, was bei einer so politischen Nation wie der englischen nicht verwundern sollte.

Die im 18. Jahrhundert erfolgende Ablösung des formalen französischen Gartens durch den englischen Landschaftsgarten ist einer der markantesten Paradigmenwechsel in der Kulturgeschichte. Der Landschaftsgarten kann als Symbol einer Lebensform gelten, die bis heute ein nationales Wunschbild darstellt: Im Landschaftsgarten bündeln sich von seiner Genese her politische, gesellschaftliche und ästhetisch-geschmackliche Aspekte zu einem komplexen anglozentrischen Weltentwurf. Von Anfang an wurde der englische Garten mit dem nationalen Freiheitsideal assoziiert – in Absetzung von dem formalen französischen Garten mit seiner absolutistischen Aura. Er wurde nicht in der dünnen Luft ästhetischer Selbstgenügsamkeit geschaffen, sondern verdankt seine Entstehung konkreten soziokulturellen Umständen.

So ist es kein Zufall, sondern gewissermaßen ein Fingerzeig der Geschichte, daß die maßgebliche theoretische Weichenstellung für die Gartenrevolution gerade während des Spanischen Erbfolgekrieges (1702–1714) geschah, als England mit Frankreich nicht nur um die politisch-militärische Vormachtstellung rang, sondern auf allen Gebieten auch um die kulturelle Führung. Pointiert formuliert schlug die ideologische Geburtsstunde des Landschaftsgartens vor genau 300 Jahren – mit Joseph Addisons Essay im Tatler vom 20. April 1710; Addison war als Verfasser aufklärerischer „moralischer Wochenschriften“ seinerzeit eine europäische Berühmtheit. In dieser an Miltons Beschreibung im vierten Buch von „Paradise Lost“ anknüpfenden Schilderung eines alpinen Paradieses, in welchem Pflanzen sich in natürlichem Wachstum frei entfalten, werden politische und landschaftliche Freiheit miteinander verschränkt. Freiheit als etwas Natürliches, dem Menschen Wesensgemäßes ließ sich durch Naturhaftes zur Anschauung bringen.

Die theoretische Grundlegung des Landschaftsgartens, die eben von Schriftstellern und nicht von Gärtnern, Architekten oder anderen professionell Interessierten ausging, wurde von liberal gesinnten Autoren dominiert. So kontrastierte Lord Shaftesbury, der den Whigs, den Vorläufern der späteren Liberalen, zuneigte, in seiner Abhandlung „The Moralists“ (1709) die Schönheit der freien Natur mit dem „Tand fürstlicher Gärten“. Die geistigen Hebammendienste weisen also eine parteipolitische Akzentuierung auf, die sich in der Dominanz der Whigs in der Praxis der Landschaftsgartenbewegung bestätigt.

In der raschen Verbreitung des Landschaftsgartens spiegelte sich auch die gegensätzliche politisch-gesellschaftliche Situation der maßgeblichen Geschmacks­trägerschichten der beiden führenden europäischen Nationen. Während in Frankreich ein auf das monarchische Machtzentrum ausgerichteter Hofadel auf prunkvolle Selbstdarstellung bedacht war, wurde die Anlage von Landschaftsgärten in England zum identitätsstiftenden Prestigeprojekt einer auf dem Lande lebenden, sich auf ländliche Gravitationszentren verteilenden und an der wirtschaftlichen Nutzung des Bodens interessierten Aristokratie.

Das utilitäre Moment spielte eine wichtige, wenn auch nicht ausschlaggebende Rolle, denn der Landschaftsgarten war nie eine rein ästhetische Angelegenheit, sondern – jedenfalls bis zum Aufkommen der Mode des bloß Pittoresken im späten 18. Jahrhundert – immer auch eine moralische Veranstaltung.

Im englischen Landschaftspark äußerte sich eine neue weltanschauliche Deutung der Natur, die als Gottes harmonische Schöpfung lediglich einer behutsamen Steigerung der ihr innewohnenden Eigenschaften bedurfte, aber keiner rigorosen Korrektur.

Ein wichtiger geistesgeschichtlicher Faktor bei der Herausbildung einer neuen Gartenkultur war der unter dem Einfluß der Physikotheologie vollzogene Paradigmenwechsel in der Naturauffassung. Vertreter dieser sich damals durchsetzenden Denkrichtung bahnten einer neuen weltanschaulichen Besetzung der Natur den Weg, indem sie – anders als die von dem defizitären Zustand der Natur ausgehenden französischen Theoretiker des formalen Gartens – die empirisch vorfindbare, Gottes Güte offenbarende Natur zur positiven Richtschnur erhoben. Infolge des in England stattfindenden Paradigmenwechsels war fortan nur noch eine behutsame Steigerung der der Natur innewohnenden Eigenschaften, nicht aber ihre rigorose Korrektur angesagt. Man solle die Göttin als eine bescheidene Schöne behandeln und nicht übertrieben aufputzen, schrieb der englische Dichterfürst des Aufklärungszeitalters, Alexander Pope, in seiner programmatischen „Epistle to Burlington“ (1731).

Bei der praktischen Verwirklichung des englischen Landschaftsgartens hat die Malerei eine wichtige Rolle gespielt; Gärten wurden damals auch als begehbare Bilder bezeichnet. Dabei orientierte sich die Landschaftsgartenbewegung insbesondere an der bildungsgesättigten Kunst Claude Lorrains, in dessen Landschaftsbildern Wirklichkeit und Ideal einander harmonisch durchdringen. Für die ästhetische Nobilitierung der Landschaft ist es höchst bezeichnend, daß die auf eine Symbiose von Natur und Kultur abzielende Landschaftsgartenbewegung der von der kulturellen Aura der Antike geadelten Kunst Claude Lorrains den Vorzug vor den holländischen Landschaftsmalern gab, die nach rein „naturalistischen“ Kriterien mehr Anklang hätten finden müssen.

Schließlich wäre das Gesamtkunstwerk Landschaftsgarten nicht vorstellbar ohne seine palladianische Architektur – Villen, Tempel, Brücken. Natürlicher Garten und palladianische Architektur gehören eng zusammen, und palladianische Bauten sind ein ebenso fester Bestandteil des klassizistischen Landschaftsgartens wie Spitzbögen eine notwendige Begleiterscheinung gotischer Kirchen. Der Impulsgeber für die Vorherrschaft palladianischer Architektur war Lord Burlington, ebenfalls ein überzeugter Whig, der nach 1725 in Chiswick bei London – heute mit der U-Bahn zu erreichen – eine quadratische Villa nach dem Vorbild von Palladios Villa Rotonda errichtete. Sie sollte als Modell einer reinen, auf Natur und Vernunft gegründeten Architektur fungieren. Der palladianischen Architektur mit ihrer zurückhaltenden Eleganz und Bändigung des im Barock üblichen architektonischen Überschwangs wurde sittliche Kraft zugesprochen.

Die ab ungefähr 1730 erfolgende praktische Umsetzung der durch die literarische Initialzündung vermittelten Ideen lag zu einem großen Teil in den Händen der – meist whiggistischen – Aristokratie, zu der sich als Auftraggeber, der gesellschaftlichen Machtkonstellation entsprechend, auch wohlhabende Angehörige des Bürgertums gesellten. Der englische Garten ist nicht zuletzt eine Kulturleistung des Adels.

Lord Cobhams berühmter Landschaftsgarten in Stowe (Buckinghamshire) bietet das eindrucksvollste Beispiel für die Ausrichtung eines Gartens gemäß den politisch-ideologischen Leitgedanken. In dem semantischen Zusammenspiel zwischen der freien, zwanglos arrangierten Natur und den bedeutungsträchtigen, das nationale Freiheitsideal unter Rückgriff auf die Antike in Szene setzenden Bauten verkörpert Stowe die selbstbewußte Antithese zu dem absolutistischen, die Natur in ein „Prokrustesbett“ zwingenden Versailles.

Überhaupt konnte der Landschaftsgarten mit seinem liberalen Image leicht zum Resonanzboden für verwandte Ideen etwa erzieherischer Art werden; so wurde beispielsweise das freie Wachstum der Pflanze mit der freien Entfaltung des Menschen verglichen, eine Analogie, die den formalen Garten als Symbol naturwidriger Erziehung zum Gegenpol hatte.

Mit seinen sanft gewellten Rasenflächen, seinen unregelmäßigen Wasseranlagen, den natürlich gepflanzten Baumgruppen und den malerischen Ausblicken auf bedeutungsträchtige Bauten wurde der englische Landschaftsgarten ein Exportschlager ersten Ranges.

Anlagen wie diejenigen von Castle Howard (Yorkshire), Rousham (Oxfordshire), Studley Royal (Yorkshire), Stourhead (Wiltshire), Shotover (Oxfordshire), Petworth (Sussex) und Nuneham Courtenay (Oxfordshire) traten Stowe an die Seite. Unter dem gebieterischen Einfluß des stets auf Verschönerung drängenden Lancelot Brown, des ersten Berufsgärtners des neuen Stils, wuchs sich das Landschaftsgartenkonzept seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer regelrechten Geschmacksdiktatur aus, so daß auch attraktive formale Anlagen wie Chatsworth (Derbyshire) und Blenheim Palace (Oxfordshire) einer robusten Umgestaltung anheimfielen.

Mit dem Landschaftsgarten hatte England ein nationales Symbol mit internationaler Ausstrahlung hervorgebracht und war auf dem Gebiet der bildenden Kunst einmal der Gebende, nicht der Empfangende. Schon früh weckte dies die Aufmerksamkeit auch deutscher England-Reisender, deren Zahl im Laufe der Jahrzehnte stetig zunahm. Bereits 1741 bezeichnete der preußische Legationsrat Jacob Friedrich Freiherr von Bielfeld die Anlagen von Studley Royal als „irdisches Paradies“. Mit seinen sanft gewellten Rasenflächen, seinen unregelmäßigen Wasseranlagen, insbesondere den serpentinenförmigen Seen, den natürlich gepflanzten Baumgruppen und den malerischen Ausblicken auf bedeutungsträchtige Bauten wurde der englische Landschaftsgarten ein Exportschlager ersten Ranges. Mit seinem arkadischen Fluidum war er gewissermaßen der weit ausstrahlende Mikrokosmos der durch den Publizisten und Zeitungsverleger Johann Wilhelm von Archenholz gepriesenen „glücklichen Insel“.

Auf seinem einzigartigen Siegeszug wurde er bald für ganz Europa vorbildlich und verbreitete sich über den gesamten Kontinent, aber auch darüber hinaus. In Deutschland stellt das Dessau-Wörlitzer Gartenreich das schönste Beispiel eines englischen Gartens dar, weil kulturelle Aneignung hier auch in mentalitätsmäßiger Affinität erfolgte. Der Fürst von Pückler-Muskau nahm für die Gestaltung seines Muskauer Parks sogar den finanziellen Ruin in Kauf, nachdem sein Sanierungsplan, eine reiche englische Erbin zu ergattern, gescheitert war. Auch Schwetzingen, der Englische Garten in München und Peter Joseph Lennés „Preußisches Arkadien“ in Potsdam bieten besonders sehenswerte Anschauungsbeispiele. Gerade die ausgeprägte deutsche Anglophilie fand an dem freiheitlich konnotierten englischen Garten als Kristallisationspunkt auch gesellschaftlicher Sehnsüchte Gefallen. So nahm der in patriotischem Geist geborene Landschaftsgarten noch eine kosmopolitische Färbung an.

Über die mit dem englischen Landschaftsgarten entstehungs- und sozialgeschichtlich eng verknüpfte Landsitzgesellschaft, deren Abgesang schon vor dem Ersten Weltkrieg im Zuge von Lloyd Georges den Grundbesitz belastenden Reformen eingeläutet wurde, ist die Zeit längst hinweggegangen. Die im 18. Jahrhundert geschaffenen Anlagen aber sind weitgehend erhalten geblieben und verströmen – meist von Institutionen wie dem gemeinnützigen National Trust sorgsam unterhalten – nach wie vor ihre gepflegte, von einem nostalgischen Parfüm durchwehte Kultiviertheit. Fast alle Anlagen können ohne Umstände besichtigt werden.

Mag der ideelle Zusammenhang mit der von von Archenholz gerühmten Nationalfreiheit für heutige Besucher (englische eingeschlossen) auch verblaßt sein, seinen Rang als nationales Vorzeigeobjekt hat der Landschaftsgarten behaupten können. „England at its best“ – so denken gewiß viele gegenwärtige Bewunderer beim Anblick dieser herrlichen, ein insulares Lebensideal darstellenden Anlagen, das bis weit in die Mittelschicht hineinwirkt.

Die heutigen Deutschen, ohnehin als reiselustig bekannt, sollten hinter ihren Landsleuten im 18. Jahrhundert nicht zurückstehen und den Zauber der englischen Gärten auf sich einwirken lassen. Mit seiner Verbindung von Gesellschaft, Politik und Naturbegeisterung empfiehlt sich der Landschaftsgarten, ein Schaufenster der aristokratischen Vergangenheit Englands, immer noch als vorzügliches Entree zu englischer Kultur. Nicht zuletzt hat der Landschaftsgarten den heutzutage nicht gering zu schätzenden Vorteil, ein unaufdringliches Symbol englischen Nationalstolzes zu sein, das gänzlich untauglich ist, böses Blut zu machen.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist Emeritus für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die britischen Konservativen (JF 6/09).

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