© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

Asche über Europa
Sehnsucht nach Langsamkeit
Dieter Stein

Haben Sie auch am Wochenende staunend nach oben geblickt und sich über den besonders blauen Himmel gewundert? Irgend etwas stimmte nicht. Nein, die Ausläufer der isländischen Aschewolke, ausgestoßen vom Vulkan Eyjafjallajökull auf Island, waren mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Es war etwas anderes: Der wolkenlose, tiefblaue Himmel – er war vollkommen makellos. Das war es: Nicht ein einziger Kondensstreifen durchschnitt den Äther!

Gerade über Berlin kreuzen sich auch an normalen Tagen Hunderte Kondensstreifen am Firmament. In hohen Flughöhen entstehen diese weißen Zeichnungen aus dem Kontakt der heißen, Wasserdampf enthaltenden Abgase der Strahlentriebwerke mit eiskalter Luft. Die sich ausbreitenden Streifen halten sich manchmal stundenlang und prägen das moderne Antlitz des Himmels in den verkehrsreichen Überfluggebieten der Erde.

Dank des tagelang von den europäischen Sicherheitsbehörden verhängten Flugverbots erlebten wir nun einen Himmel, wie ihn unsere Großeltern vermutlich nur noch aus der Nachkriegszeit kannten.

Wer nicht wie der Reporter der JUNGEN FREIHEIT als Reisender auf einem ausländischen Flughafen ausharren mußte (siehe Seite 19) oder gar auf eine lebensnotwendige Organspende wartete, die per Flugzeug kommen sollte, erlebte das Flugverbot als willkommene Atempause in einer zunehmend hektischen Welt. Die Möglichkeit, innerhalb von wenigen Stunden überall zu sein, 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr  – sie ist nicht nur Segen, sondern auch Fluch: Sinnbild unserer modernen Entortung.

Wir können der Welt nicht mehr entkommen. Dank des technischen Fortschritts wird der Taktschlag unserer Zeit immer schneller. Wir kommen nicht nur überall hin, wir sind auch überall erreichbar. Es gibt kaum noch Ruhezonen. Der moderne Arbeitssklave hat sein Büro in Form seines internetfähigen Mobiltelefons immer und überall dabei, telefoniert nicht nur, sondern beantwortet auch nonstop seine elektronischen Nachrichten – auch im Urlaub. Die Tretmühle als Dauerzustand: Thema vieler aktueller Bestseller, die sich mit dem „Burnout“-Syndrom und technischer Selbstversklavung beschäftigen.

Es hatte seinen Grund, weshalb sich die Menschen einst in eine Ordnung fügten, in der sie zwar „im Schweiße des Angesichts“ arbeiten sollten, die Woche aber wenigstens vom Sonntag, das Jahr von einer Reihe hoher Feste unterbrochen war, an denen alles ruhte. Die Klage über das Sich-selbst-Verlieren in der Hektik der Zeit, das Aufgefressenwerden durch die technischen Möglichkeiten ist nicht neu, wie Goethe schon vor 200 Jahren schrieb: „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen ...“

Die Asche von Eyjafjallajökull ist ein Wink der Natur. Entziehen wir uns der totalen technischen Mobilmachung. Wir können auch anders. Das Leben ist schnell genug vorbei.

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