© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

CD: Gustav Mahler
Güte
Jens Knorr

Die frühen Hörerlebnisse prägen lebenslang. Wer sich in der DDR dem „spätbürgerlichen“ Komponisten Gustav Mahler zuwandte, war lange Zeit auf die alte Eterna-Serie des VEB Deutsche Schallplatten angewiesen, und er tat mit den Einspielungen der 5. bis 7. und 9. Symphonie durch das Leipziger Gewandhausorchester unter Václav Neumann – von einer mißlungenen Fünften abgesehen – keinen schlechten Griff, allein schon der instruktiven Werkeinführungen des früh verstorbenen Musikphilosophen Eberhardt Klemm wegen.

Der Zyklus blieb unvollendet, weil Neumann, seit 1964 Generalmusikdirektor in Leipzig, im August 1968 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings alle seine Ämter in dem kollaborierenden Land niederlegte und nach Karel Ančerls Emigration nach Kanada das des Ersten Dirigenten der Tschechischen Philharmonie Prag übernahm.

Vielleicht ist der Mahler-Zyklus, den Neumann von 1976 bis 1982 mit der Tschechischen Philharmonie für die Firma Supraphon realisieren konnte, weit tschechischer noch als der von Rafael Kubelik mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks aus den Sechzigern, dem man prompt dieses Attribut angehängt hatte. Doch scheint in abwertend gemeinten Epitheta wie „böhmisch“ oder „musikantisch“ durchaus ein Moment von gegenteiliger Wahrheit auf, bei Mahler zumal: Kalischt, der Geburtsort Mahlers, liegt ja so weit nicht entfernt von Býchory und Prag, den Geburtsorten beider Dirigenten.

Wie alle Geister, so scheiden sich an Mahler auch die der Dirigenten. Den einen ist er der letzte Romantiker, den andern der erste Moderne. Der zweiten Gruppe gehört Neumann keinesfalls an, doch läßt er sich auch nicht umstandslos der ersten Gruppe zuschlagen. Ohnehin ist heute, da jedes mittlere Orchester und jeder Pult-Depp ihren Mahler im Repertoire haben, die Frontlinie unscharf und Interpretation oft nur noch bloße marktstrategische Behauptung.

Neumann läßt sich von den Partituren seines Komponisten in gemeinsamer Landschaft verorten und findet über Herkunft und Biographie den ganz eigenen Ton. Er führt die Tschechische Philharmonie sicher und unprätentiös, auf eigene Leipziger Erfahrungen zurückgreifend, aber gewiß auch auf die des Orchesters mit dem großen Karel Ančerl, dem wir eine grandiose Aufnahme von Mahlers Neunter aus dem Jahr 1966 verdanken. Die musikalische Darstellung ist von jener unerträglichen Leichtigkeit des Seins in Zeiten der tschechischen „Normalisierung“, ein ernstes Spiel mit Affirmation und Negation schlechter Wirklichkeit: die Vierte ein unheimlicher Gespenstertanz unter überaus freundlich gemütvoller Oberfläche, der erste Satz der Siebten kafkaesk durchtrieben, das Finale der Achten eine Affirmation des Möglichen, alle Adagios versöhnlich ohne Sauce. Gegen die Qualität der Interpretation fallen Mängel von Orchester und Gesangssolisten nicht ins Gewicht.

Im Vorgriff auf Mahlers hundertsten Geburtstag sei empfohlen, auf diesen Mahler-Zyklus zurückzugreifen (Supraphon SU 3880-2), der, wie Jens Malte Fischer schreibt, „zu den unterschätzten Beiträgen im internationalen Mahler-Katalog“ gehört. Die Tugend des Dirigenten Václav Neumann macht die Qualität dieses seines Beitrags aus: Güte.

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