© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

Der Spitzel im Unterholz
Deutsch-deutsches Lesebuch: Die Stasi-Akten von Günter Grass
Jörg-Bernhard Bilke

Am 14. August 1961, einen Tag nach Errichtung der Berliner Mauer, schrieb Günter Grass einen Offenen Brief an die Ost-Berliner Schriftstellerin Anna Seghers (1900–1983), die Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbands, und erhob scharfen Protest gegen die Verriegelung der innerdeutschen Grenze durch die DDR-Regierung. Da er den Widerstandsroman „Das siebte Kreuz“ (1942) gelesen hatte, verglich er den eingemauerten SED-Staat mit einem Konzentrationslager und schrieb: „Die Angst Ihres Georg Heisler hat sich mir unverkäuflich mitgeteilt; nur heißt der Kommandant des Konzentrationslagers heute nicht mehr Fahrenberg, er heißt Walter Ulbricht und steht Ihrem Staat vor.“

Von diesem Zeitpunkt an bis zum Juli 1989, also knapp 28 Jahre, wurde der 1927 im westpreußischen Danzig geborene Schriftsteller, der 1959 mit seinem Roman „Die Blechtrommel“ berühmt geworden war, unter dem Decknamen „Bolzen“ ununterbrochen überwacht, sowohl in West-Berlin, wohin er 1960 von Paris gezogen war, als auch bei DDR-Reisen.

Die ihn überwachten, ihre Gespräche mit ihm aufzeichneten und ihre Berichte der Staatssicherheit ablieferten, waren bekannte DDR-Schriftsteller wie Hermann Kant, Erwin Strittmatter und Paul Wiens oder Kulturpolitiker wie Hans Marquardt, der Leiter des Leipziger Reclam-Verlages 1961/87, und Jürgen Gruner, 1963/68 Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Kultur.

Die hier abgedruckten und von Kai Schlüter, einem studierten Germanisten und Hörfunkredakteur, bearbeiteten Dokumente sind freilich nur ein Teil dessen, was die Stasi über Günter Grass zusammengetragen hat. Aber auch diese Auswahl von rund 300 Druckseiten ist erschreckend genug, der aufgefundene Aktenberg ist ungleich höher.

Wer sich der Mühe unterzieht, sich in dieses fremdartige „Stasi-Deutsch“ einzulesen, erfährt eine Fülle von Einzelheiten über den DDR-Literaturbetrieb (zum Beispiel, daß Paul Wiens nach einer Diskussion 1964 in Weimar Günter Grass verprügeln wollte) und über die Ängste der „Literaturinterpreten“ aus Mielkes Ministerium, die – ungebildet und schwach in Orthographie – dennoch fähig waren, die Existenz von Autoren nach Gutdünken zu vernichten.

Kai Schlüter hat diese grauenhafte Textsammlung, die er nicht als „wissenschaftliche Edition“, sondern als „Lesebuch“ verstanden wissen will, in fünf chronologisch aneinandergereihte Kapitel aufgeteilt. So folgen nach den Äußerungen zum Mauerbau (1961/66) die konspirativen Lesungen in Ost-Berliner Wohnungen (1974/80), nach den friedenspolitischen Aktivitäten (1981/86) sind erste Lesereisen (1987/88) möglich, das letzte Kapitel ist einer Reise (1989) von Günter Grass auf die Inseln Rügen und Hiddensee gewidmet, der Heimat seiner zweiten Frau Ute Grunert.

Alles, was der Autor in diesen Jahrzehnten privat erzählt oder öffentlich geäußert hat, ist unter Weglassungen und Einfügungen aufgezeichnet, bewertet und oft auch verzerrt dem Führungsoffizier übermittelt worden. So entstand eine doppelt und dreifach „gefilterte Sicht der Wirklichkeit“ (Kai Schlüter), die weit mehr über die Überwacher aussagt als über den Überwachten.

Um diese „spröde Behördenprosa“ (Andreas Platthaus) für den Leser verdaulich zu machen, hat Kai Schlüter den unaufhörlichen Fluß der konspirativen Berichte an die Führungsoffiziere durch Interviews – das letzte wurde mit der oppositionellen Liedermacherin Bettina Wegner erst am 14. Januar dieses Jahres geführt – und Zeugenaussagen aufgelockert. 

Im letzten Abschnitt des Buches, wo zu lesen ist, wie Günter Grass überwacht wurde, als er im Sommer 1989 auf die Insel Rügen und nach Hiddensee reiste, spielt ein hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter der für den Kulturbereich verantwortlichen Hauptabteilung XX eine Rolle. Obwohl Grass auf Rügen bereits von Hans Marquardt beschattet wurde, der dort seinen Lebensabend verbrachte, reichte das der Staatssicherheit offenbar nicht aus, weshalb noch ein erfahrener Abwehroffizier auf die Inseln entsandt wurde. Ein herrliches Bild tut sich auf: Günter Grass sitzt zeichnend auf einer Klippe, hinter ihm lauert im Unterholz der Spitzel mit Fernrohr und Funkgerät.

Kai Schlüter (Hrsg): Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Christoph Links Verlag, Berlin 2010, gebunden, 384 Seiten, 24,90 Euro

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