© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

Charismatischer Kleinkriegsexperte
Nun reitet er wieder: Die erstaunliche Rückkehr des Majors von Schill in einem fulminanten Werk des Historikers Veit Veltzke
Marcus Pohl

Im Register von Herfried Münklers „Die Mythen der Deutschen“ (2009) sucht man den Namen des Majors Ferdinand von Schill vergeblich. Auch das für ihn tödlich endende welthistorische Drama, die im siegreichen Befreiungskrieg von 1813/14 mündenden Anstrengungen Preußens, Napoleons Besatzungsherrschaft abzuschütteln, schnurrt bei Münkler auf ein paar Zitatfetzen über die sakralisierte „Eisenbraut“ Königin Luise zusammen.

Münklers Ignoranz gegenüber dem „Mythos“ des nationalen Befreiungskampfes, zumal im 200. Todesjahr Schills, ist keine professorale Marotte. Anders als die Historiker der DDR, für die sich „1813“ fabelhaft in das Traditionskonstrukt „deutsch-russische Freundschaft“ einfügte, taten sich ihre rheinischen Kollegen stets schwer damit. Einerseits stand die „nationale Selbstbehauptung“ nach 1945 ohnehin tief im Kurs. Schließlich sollte der „Weg nach Westen“ für die Bonner Republik eher in Selbstauflösung enden – ein Prozeß, den Helmut Kohl gerade nach 1989 „unumkehrbar“ gestalten wollte. Andererseits paßte speziell die Erhebung gegen Napoleon schlecht zur verordneten „deutsch-französischen Freundschaft“. Noch Kanzlerin Merkel zollt dieser Geschichtspolitik ihren Tribut, wenn sie sich bei jeder zweiten Paris-Visite dafür entschuldigt, was „wir“ den gallischen Nachbarn seit Karl dem Großen angeblich alles so „angetan“ hätten.

Vor diesem Hintergrund wirkt die Beschäftigung mit einem Mann, der lange Zeit „einen bleibenden Platz in der kollektiven Erinnerung“ einnahm, seltsam unzeitgemäß. Erst recht, wenn der Historiker Veit Veltzke, seit 1991 Chef des Preußen-Museums in Wesel und Minden, der derart vom vergangenen Ruhm seines Helden spricht, mit öffentlichen Mitteln zur wahrhaften großen Schill-Inszenierung schreiten darf, um das dement wirkende nationale Gedächtnis ein wenig aufzufrischen.

Ob dem dauerhaft Erfolg beschieden sein könnte, mag zu bezweifeln sein. Aber Veltzke ficht das nicht an, da er äußerst verwegen mit Entwicklungen kalkuliert, in deren Verlauf die Bundesrepublik endlich „ein eigenes Staatsbewußtsein“ formulieren müsse. Dafür wäre ein Rekurs auf „historische Vorbilder“ unerläßlich, und dann „könnte auch Ferdinand von Schill wieder eine neue Konjunktur bekommen“.

Zweihundert Jahre nach dem Soldatentod Schills, der seit dem Desaster von Jena und Auerstedt in Pommern, Mecklenburg sowie an der Peripherie des „Königreichs Westfalen“ einen Guerillakrieg gegen die französischen Besatzer führte, bevor er am 31. Mai 1809 im Stralsunder Straßenkampf fiel, erinnern Ausstellungen in Wesel, Greifswald und Braunschweig in ungewöhnlich plakativer Form an einen „charismatischen Kleinkriegsexperten“, der nach Veltzkes Urteil bis 1945 „als Nebenmythus im deutschen Mythenhimmel“ rangierte – an der Seite von Königin Luise, dem „alten Blücher“, den „preußischen Reformern“ und „Kolberg“ natürlich, an dessen Verteidigung der Kavallerist 1807 einigen Anteil hatte.

Ebenso zur Revitalisierung Schills soll eine von Veltzke herausgegebene, großformatige, opulent illustrierte Aufsatzsammlung dienen. Als Begleiter für die Ausstellungen konzipiert, liefert das Werk ein eindringliches Epochenporträt und bewegt sich historiographisch auf höchstem Niveau, wobei er sogar auf die sonst üblichen volkspädagogischen Nöhlereien verzichtet – abgesehen vom Beitrag des Greifswalder Historikers Thomas Stamm-Kuhlmann über den „papierenen Blutrausch“ in der antinapoelonischen Publizistik der Kleist, Arndt, Körner, Schenkendorf.

Trotzdem ist hier natürlich keine plumpe Wiederentfachung des „Schill-Fiebers“ zu erwarten. Ganz im Gegenteil. Nach Kräften rückt man, als hätten sich die Probleme seit Jahrzehnten nicht durch schlichtes Vergessen erledigt, dem „Nebenmythus“ zu Leibe und „dekonstruiert“ nach Herzenslust.

In kritischem Licht erscheint dabei alles, was für die Eingängigkeit einer schwarzweiß-malenden, scharfe Kontraste bevorzugenden mythischen Erzählung unerläßlich ist: so die beliebte Vorstellung, das „reaktionär“ verknöcherte Preußen sei unter der Wucht „revolutionärer“ napoleonischer Schläge 1806 zusammengebrochen und habe sich mit den Stein-Hardenbergschen Reformen neu erfinden müssen. Was Otto Hintze 1900 bereits wußte – daß man Reform­arbeiten durchaus schon im friderizianischen Staat in Angriff genommen hatte –, erscheint hier in neuer Beleuchtung des „recht beweglichen altpreußischen Körpers“.

Wenig bleibt auch von der durch Veit Harlans „Kolberg“-Film (1945) noch einmal beschworenen Legende übrig, der zufolge Bürgern und Soldaten, dem „geeinten Volk in Waffen“, der hinterpommersche Triumph über einen vielfach überlegenen Feind zu danken sei. Es war wesentlich ein Sieg der Militärs, der von Gneisenau kommandierten Festungstruppen. Schills Anteil daran wird nicht verkleinert, aber man verschweigt auch nicht, daß seine Vorfeldoperationen zwischen Naugard und Regenwalde den Landsleuten wenig behagten, sie seine requirierenden, plündernden Scharen mehr als „Geißel der Gegenden“ empfanden als die französischen Eroberer.

Damit ist das Zentrum dieser Entmythisierung berührt, die Frage nach den Ursachen der preußischen Volkserhebung. Mit dem „Geist der Freiheit“ allein, den „Ideen“ Herders und Kants, wie die ältere, von Friedrich Meinecke ausgehende Forschung glaubte, war es jedenfalls nicht getan.

Aber was weckte dann das nationale „Gefühl des Unwillens“, aus dem sich „die Insurrection erregen“ ließ (Freiherr vom Stein, 1808)? Wie entsteht das Wir-Gefühl, welche Einflüsse formen und stabilisieren es derart, daß die geistige Mobilisierung schließlich in militärische Aktion umschlägt? Genügt die Verschlechterung materieller Bedingungen unter einem Besatzungsregime, wie Rudolf Ibbeken in einer bahnbrechenden, erst dreißig Jahre nach ihrer Entstehung, 1970 gedruckten sozialhistorischen Untersuchung schärfer noch als jeder Marxist behauptete?

Angesichts unzähliger „Insurrectionen“ gegen „humanitäre“ und andere „Interventionen“ seit 1945 bleiben dies höchst aktuelle Urfragen der Nationalismusforschung, die auch in diesem Band nicht befriedigend beantwortet werden. Daß sich bei allem Respekt vor den ökonomischen Determinanten aber ohne Emotionen, ohne „Idolisierungsstrategie“, die sich im unterworfenen Preußen eben des lebenden wie des toten Helden Schill bemächtigte, schwerlich „nationales Bewußtsein“ bis hin zur Todesbereitsschaft wecken läßt, geht aus den Studien dieses Bandes zur Zeit „Vor dem Sturm“ (Theodor Fontane“) jedenfalls eindrucksvoll hervor.

Veit Veltzke (Hrsg.): Für die Freiheit – gegen Napoleon. Ferdinand von Schill, Preußen und die deutsche Nation. Böhlau Verlag, Köln 2009, gebunden, 440 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro.

Fotos: Restaurierung des Schill-Denkmals in Stralsund 1975: Speziell die Erhebung gegen Napoleon paßte in der alten Bundesrepublik schlecht zur verordneten „deutsch-französischen Freundschaft“, Major Ferdinand von Schill um 1809, Zeichnung von K. Ludwig Buchhorn: Wieder Konjunktur

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