© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

Lehrstück alliierter Doppelmoral
Kerstin von Lingen offenbart die Zusammenarbeit zwischen SS und US-Geheimdienst 1945
Wolfgang Kaufmann

Wenn eine der oberen SS-Chargen die Bezeichnung „rechte Hand Heinrich Himmlers“ verdient, dann Karl Wolff (1900–1984). Immerhin fungierte der gelernte Bankkaufmann, welcher in beeindruckend kurzer Zeit zum Obergruppenführer und General der Waffen-SS avancierte, seit 1934 als Chef des Persönlichen Stabes des Reichsführers SS. In dieser Eigenschaft zeichnete Himmlers „Wölffchen“ unter anderen für die Judenvernichtung sowie die tödlichen medizinischen Experimente in den Konzentrationslagern mitverantwortlich. Ab 1943 bekleidete er dann den Posten des Höchsten SS- und Polizeiführers in Italien, womit eine weitere Aufstockung seines persönlichen Schuldkontos einherging.

Um so verwunderlicher ist es, daß gerade dieser vielfach belastete Exponent des Dritten Reiches den Nürnberger Gerichtssaal nur von der Zeugenbank aus sah, wonach ein bizarres Intermezzo in der Psychiatrie folgte, dem wiederum sich eine Farce von Entnazifizierungsverfahren anschloß, die mit der faktischen Amnestierung des angeblich nur „Minderbelasteten“ endete. Die Gründe für diese unfaßbare Milde gegenüber einer Person, welche man mit Fug und Recht als höchstrangige überlebende SS-Größe bezeichnen kann, enthüllt die Tübinger Historikerin Kerstin von Lingen auf der Basis nunmehr zugänglicher Akten der CIA-Vorläuferorganisation Office of Strategic Services (OSS): Wolffs Immunität war der Preis, den die Westalliierten dafür zahlten, daß er im März 1945 während geheimer Verhandlungen in der Schweiz einer vorzeitigen Teilkapitulation der deutschen Truppen in Norditalien zugestimmt hatte.

Von selbiger Abmachung, welche dann am 2. Mai auch tatsächlich in Kraft trat („Operation Sunrise“), versprachen sich die USA und Großbritannien entscheidende Vorteile im Kampf um die Vorherrschaft in Europa bzw. gegen eine Ausdehnung des sowjetkommunistischen Machtbereiches. Allerdings resultierte der sakrosankte Status des ehemaligen SS-Obergruppenführers nicht nur aus seiner Bereitwilligkeit, aus eigener Verantwortung die Waffen zu strecken. Wie von Lingen anhand zahlreicher schlüssiger Indizien nachweist, bot Wolff den amerikanischen und britischen Unterhändlern rund um den OSS-Europachef Allen W. Dulles neben der Separatkapitulation in Italien auch noch militärische Unterstützung durch deutsche Truppen an, insonderheit beim Vorgehen gegen die kommunistischen Partisanen in Nord­italien und Jugoslawien.

CIA sorgte sogar für eine kürzere Haftzeit Wolffs

Und tatsächlich nahm die anglo-amerikanische Seite diese Offerte an – zwar nicht explizit (um einen offenen Bündnisverrat mit all seinen unkalkulierbaren Konsequenzen zu vermeiden), aber doch durch eindeutiges konkludentes Handeln: Teile der deutschen Heeresgruppen C und E sowie ungarischer und anderer Verbündetentruppen der Deutschen wurden gezielt unter Waffen belassen oder gar völlig von der Kapitulation ausgenommen, um Kräfte auf der Gegenseite zu binden. Dadurch gelang es den Westalliierten nicht zuletzt, die kampfstarken Partisanenverbände Titos aus dem strategisch hochwichtigen Gebiet rund um den italienischen Adria-Hafen Triest herauszudrängen.

Der Deckname für diese Aktion, welche vom 2. Mai bis zum 12. Juni 1945 andauerte, lautete sinnigerweise „Operation Unthinkable“ – und so undenkbar, wie es für Mitglieder der Anti-Hitler-Koalition eigentlich sein sollte, Seite an Seite mit deutschen Truppen gegen Partisanen zu kämpfen, so untunlich war es auch, dem Mitwisser Wolff den Prozeß zu machen. Schließlich stand zu erwarten, daß der dann über die in Ascona getroffenen Vereinbarungen plaudern würde, um seinen Hals zu retten. Allerdings konnte Dulles Anfang der sechziger Jahre schließlich doch nicht mehr verhindern, daß der Ex-Obergruppenführer 1964 vor ein bundesdeutsches Gericht treten und sich für seine Mitwirkung an der Judenvernichtung verantworten mußte.

Jedoch saß Wolff nach dem Schuldspruch von München (15 Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen) nicht sonderlich lange ein, was vom immer noch hinreichend langen Arm der CIA zeugt. Kerstin von Lingens rundum gelungenes Buch stellt somit ein aufschlußreiches Lehrstück in Sachen westalliierter Doppelmoral bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern dar. Ebenso freilich ist der nunmehr hinreichend dokumentierte Kuhhandel zwischen der SS und gegnerischen Geheimdiensten ein weiterer handfester Beleg dafür, daß Verschwörungen durchaus realer Natur sein können, also nicht nur in den Hirnen phantasiebegabter und womöglich noch rechtsextremer Spinner existieren, wie „volkspädagogisch“ ambitionierte Historiker vom Schlage eines Wolfgang Wippermann gerne glauben machen wollen.

Des weiteren wird Stalins zunehmende Paranoia im Hinblick auf die Haltung der Westalliierten jetzt eher nachvollziehbar, denn das Buch bietet auch Hinweise darauf, daß der alte Fuchs im Kreml – selbst ja gleichfalls nie um schmutzige Tricks verlegen – beizeiten Wind von den Abmachungen zwischen den SS- und OSS-Unterhändlern bekam, woraufhin sich seine Zweifel an der Bündnistreue Londons und Washingtons ganz erheblich verstärkten.

Kerstin von Lingen: SS und Secret Service. Verschwörung des Schweigens: Die Akte Karl Wolff. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2010, gebunden, 273 Seiten, 29,90 Euro

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