© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/10 23. April 2010

Pankraz,
die Politik und der Infant von Parma

Aus einem Mops kann man keinen Jagdhund machen, da hilft alle Erziehung nichts. Deshalb wirkt das Buch der Pariser Feministin Elisabeth Badinter mit dem Titel „Der Infant von Parma oder Die Ohnmacht der Erziehung“, dessen deutsche Ausgabe soeben im Münchner Verlag C. H. Beck erschienen ist und einigen Furor macht, so unfreiwillig komisch, jedenfalls auf den ersten Blick.

Es geht darin um den jungen Herzog Ferdinand von Parma (1751–1802), der, so Badinter, „von den besten Lehrern der europäischen Aufklärung erzogen“ worden sei – um sich dann nach Regierungsantritt sofort als erzreaktionärer Mini-Diktator und Pfaffenfreund zu entpuppen, welcher die hehren Erziehungslehren à la Rousseau mit Füßen trat. Das ganze intellektuelle Europa der damaligen Zeit, heißt es weiter in dem Buch, habe gespannt dem „Experiment von Parma“ zugeschaut und sei von dem Resultat tief enttäuscht gewesen.

Was ist da schiefgelaufen?  fragt sich die Autorin und vermutet „mangelnde Empathie“ auf seiten der Erzieher, zu wenig Herz, zu wenig Frauenanteil. In Wahrheit aber lag das ganze Projekt „aufgeklärter Infant von Parma“ von Anfang an schief, und seine Schieflage wuchs, je weiter die Zeit fortschritt. Mit vierzehn Jahren wurde der kleine Prinz nach dem Tod seines Vaters regierender Herzog, obwohl er sich überhaupt nicht für Politik und Herrschaft interessierte. Er ließ den in aufklärerischen Kreisen hoch angesehenen Chefminister des Vaters, den Franzosen William du Tillot, einfach weiterregieren, doch das ging nur eine kleine Weile gut.

Bald sorgte Kaiserin Maria Theresia in Wien dafür, daß Ferdinand mit einer ihrer Töchter, Maria Amalia, verheiratet wurde, und diese nun interessierte sich durchaus für Politik und für Machtfragen. Sie war eine richtige Tyrannin, verdrängte Du Tillot umgehend und etablierte sich als eigentliche Herrscherin  Parmas, blieb es bis zur Eroberung und Auflösung des Herzogtums durch Napoleon im Jahre 1801. Maria Amalia (und nicht Ferdinand) war also für das prononciert anti-aufklärerische Regime in Parma und Piacenza verantwortlich, das Badinter mit solchen Schreckensfarben ausmalt.

Prinz Ferdinand blieb bis zu seinem Tod jener Antipolitiker, der er sein Leben lang gewesen war. Von einer streng katholischen Amme gesäugt, starb er in der Dominikanerabtei Fontevivo bei Piacenza, in die er sich schon vor der Ankunft Napoleons zurückgezogen hatte. Badinters Pointe: daß also einer mit größtem Aufwand zum aufgeklärten Vorzeigeherrscher erzogen wird und sich dann, zum Regierer geworden, „trotzdem“ als Großreaktionär erweist – diese schöne Pointe geht vollständig flöten. Sie verliert jeden Sinn, macht das Buch faktisch überflüssig.

Freilich hegten die Äbte von Fontevivo das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch ein finsteres Geheimnis. Herzog Ferdinand sei, so ging die Fama, von enttäuschten Aufklärern, die inzwischen zu napoleonischen Aufpassern aufgestiegen wären, aus Rache für seine schülerhafte Verstocktheit und Unbelehrbarkeit heimtückisch vergiftet worden. Er selbst habe davon gewußt und habe auf dem Totenbett darüber gesprochen. Man habe den Casus damals sogar bei den Behörden zur Anzeige gebracht, doch die napoleonische Sureté habe natürlich nicht das geringste Interesse gehabt, hier irgend etwas aufzuklären.

Solche Erzählungen legen den Verdacht nahe, daß der Infant nicht trotz seiner aufklärerischen Erziehung „Reaktionär und Frömmler“ wurde, sondern gerade weil er diese Erziehung durchlaufen hatte. Denn wie hatte der Großaufklärer Immanuel Kant unterm Beifall sämtlicher Mitaufklärer dekretiert?  „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Vielleicht hatte der junge Infant sich gefragt: „Wieso bin ich als Nichtaufgeklärter selbstverschuldet unmündig? Ich höre doch auf die Stimmen der Natur und auf die Lehren großer Ahnen und Propheten, die mir vorangegangen sind. Mut muß ich nicht aufbringen, um deren Stimmen und Lehren gelassen zu bedenken, sondern Mut muß ich aufbringen, wenn es mir einmal  einfallen sollte, meinen Erziehern und Aufklärern zu widersprechen und mich über ihre Selbstgefälligkeit und ihre Verstandeshuberei zu amüsieren.“

Und weiter hätte sich der Infant sagen können: „Das Licht, das mir meine Erzieher da tagtäglich ans Pult bringen, kann doch auch blenden und mich auf falsche Fährten lenken. Welcher Mensch kann es schon aushalten, dauernd im grellen Licht zu stehen? Zum Licht gehört doch notwendig die Dunkelheit. Zum Markt und zum Theater gehören das Zuhause und die trauliche Absonderung mit Freunden. Und zum Forschen und Erkennen gehört der Respekt vor dem großen Geheimnis, das uns alle als sterbliche Menschen umhüllt und dessen letzte Rätsel wir nie werden lösen können.“

Zur Zeit wird hierzulande viel über einen „Fundamentalismus der Aufklärung“ gesprochen, der uns bedrohe. Die Warnung ist berechtigt, auch wenn sie sich manchmal nur als Ausdruck von Feigheit gegenüber andrängendem islamischen Fundamentalismus erweist. Abschreckendes Beispiel sind jene Aufklärer, die – wie im Falle des Infanten von Parma – mit lebendigen Menschen herumexperimentieren und sich kleinlaut verziehen, wenn die Sache schiefgegangen ist und gewisse Konsequenzen fällig wären.

Natürlich gibt es ein gleichsam unveräußerliches Erbe der Aufklärung, eine eiserne Ration an Unvoreingenommenheit und wissenschaftlichem Interesse, an Liberalität und Toleranz im Umgang miteinander, welches man sich nicht wegnehmen lassen oder gar selber wegschmeißen darf. Es kommt aber darauf an, diese Aufklärung in ihren Möglichkeiten und Grenzen sorgfältig freizulegen, sie nicht zum Götzen zu machen.

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