© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Straßenkampf als Zeitvertreib
Krawalle in Hamburg: Linksextremisten und Jugendliche liefern sich am 1. Mai Auseinandersetzungen mit der Polizei und bringen den Innensenator in Erklärungsnot
Sverre Schacht

Die schweren Ausschreitungen rund um den 1. Mai haben die Hamburger Polizei überrascht: Zwei Nächte lang brannten Barrikaden, wurden Geschäfte geplündert und Scheiben zerschlagen. Offensichtlich unterbesetzt, war die Polizei teils nur Zuschauer, während ein bisher nicht dagewesenes Bündnis aus Linken, Hooligans und vor allem zahlreich angereisten, offiziell als „unpolitisch“ eingestuften Jugendlichen die Straßen beherrschte. Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU) räumt eine „fehlerhafte Prognose“ ein. Es sei ein „nicht vorhersehbares Potential“, das jenseits der üblicherweise beobachteten linken Szene aufgetreten sei. Die rund 900 Beamte vor Ort seien ausreichend gewesen und hätten die Lage „unter Kontrolle“ gehabt, künftig werde man „die Gruppe der Krawall-Touristen und applaudierenden Zaungäste“ aber genauer untersuchen, sagt Ahlhaus. Polizeigewerkschafter halten dagegen, die Einsatzkräfte seien „verheizt“ worden, und sprechen von „völlig falscher Lageeinschätzung“.

Von Kontrolle war wenig zu bemerken: Bereits in der Nacht vom 30. April mußte die Polizei eine Hundertschaft aktivieren, um gegen die Straßenkämpfe vorgehen zu können. Vorher waren Polizisten in die Flucht  geschlagen worden. Das Zentrum der Gewalt bildete das Schanzenviertel, Heimat der linksalternativen Szene. Am 1. Mai lebten die Attacken nach einer Demonstration unter dem Motto „Kapitalismus zerschlagen“ erneut auf. Statt 500 Randalierern, so das Kalkül der Ordnungskräfte, erschienen dreimal so viele.

Der mit Fassungslosigkeit und Schweigen seitens der Opposition quittierte neue Spaß von Jugendlichen an Gewalt ist kein unpolitischer Zufall. Die linke Szene warb im Vorfeld über das Internet für die neue „Spaßkultur“: Erst könne man „die Bullen stressen“, dann beim Konzert der Gruppe Deichkind „aus-chillen“, sprich entspannen. Weite Teile der linken Szene scheinen sich ungeachtet der Verwüstungen in ihrem Lieblingsviertel „Schanze“ über den Gewalttourismus zu freuen. Das linksextremistische Internetportal Indymedia versprach schon vorab: „So heiß wird der 1. Mai“. Vier Veranstaltungen, auf die Polizisten zugleich aufpassen müßten, seien eben zuviel, so der Tenor. Mit der Entsendung von Beamten nach Berlin werde die Polizei ebenfalls geschwächt sein, informierten derartige Internet-Portale in scheinsachlichem Ton.

Polizeisprecher bestätigen, daß zwei Hundertschaften nach Berlin entsandt wurden. Die Gefahrenprognose für Hamburg sei dennoch richtig gewesen. Man habe nicht ahnen können, daß so viele Minderjährige aus dem Umland nach Hamburg kommen und Gewalt ausüben würden, so das Fazit der Polizei. Dort zeigt man sich entsetzt über den neuen harten Kern, die Tätergruppe der 13- bis 15jährigen aus der Provinz, die bei den Ausschreitungen aufgegriffen wurden. Die vorausgegangene Lageeinschätzung, „die Linken“ würden zum Randalieren nach Berlin fahren, wäre somit zwar richtig, wie Polizeisprecher betonen, die neue Dimension der turnusmäßigen Mai-Gewalt von links ist dennoch bei Polizei wie Politik unterschätzt worden.

Fragen nach möglichen Zusammenhängen zwischen Ausschreitungen und zeitgleich wieder aufgetretenen Autobrandstiftungen vermögen die Ermittler nicht zu beantworten. Ihnen fehlen Erkenntnisse über die Vernetzung der Szene ebenso wie über Brandstifter. Hilflosigkeit liegt in der Luft: Von politischen Taten sei nicht auszugehen, denn bei politischen Taten gebe es immer Bekenner. Statt dessen kämpft die Polizei gegen scheinbar Interessenlose. „Erlebnisorientierte Jugendliche“, wie sie meist verharmlosend genannt werden, beanspruchen jetzt, was die Politik jahrelang hegte (Rot-Grün) oder hinnahm (Schwarz-Grün): rechtsfreie Räume.

Die Anwohner des Schanzenviertels  unterstützten inzwischen sogar die Polizei, weil sie die Gewalt in ihrem Viertel leid seien, so eine Polizeisprecherin. Viele der im Kampf gegen Yuppies, Verbürgerlichung und Kapital gewaltbereiten Linken seien demnach neuerdings ordnungswahrend unterwegs. Es sei „eben nicht mehr auseinanderdividieren“, wer wofür verantwortlich ist, sagt die Polizei. In der unüberschaubaren Lage sucht sie dringend Zeugen, um sich ein Bild zu verschaffen. Sie sucht zudem notgedrungen Verbündete in einem Kampf, in dem die Politik sie zu lange allein gelassen oder an die kurze Leine genommen hat, und findet sie in arrivierten Linken und Szene-Café-Dandys. Die wollen, bei aller Vielfalt im Schanzen-Spektrum, nicht ihren linken Chic von Minderjährigen abgefackelt sehen – Jugendlichen, die zwar die linke Weltsicht nicht bewußt teilen, sehr wohl aber ihre zum Gemeingut gewordene Verachtung von „Bullen“ und „Bonzen“.

Für eine solche Entlehnung der Mittel spricht, daß Banken und Drogerien sowie eben die Polizei Ziel der Attacken werden. Neu ist auch, daß selbst Polizei-Mitteilungen inzwischen Szenejargon aufgreifen. Da ist in Presseberichten von „Bengalos“, also Feuerwerkskörpern, die Rede, die auf Polizisten geworfen werden. Der linke Mainstream hat die Polizei erreicht – die Politik macht’s möglich.

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