© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/10 07. Mai 2010

Anspruch auf Selbstachtung
Fatale Wirkung: Die Weizsäcker-Rede hat das Land politisch und moralisch wehrlos gemacht
Thorsten Hinz

Die politische Klasse in Deutschland demonstriert gerade wieder einmal eindrucksvoll, daß sie sich unter deutscher Interessenvertretung nichts anderes vorstellen kann als die Verpfändung deutschen Volksvermögens für auswärtigen Schlendrian und Begehrlichkeiten. Auch in dieser Hinsicht hat die Rede, die der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor fünfundzwanzig Jahren im Deutschen Bundestag zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai hielt, inhaltlich wegweisend und stilprägend gewirkt.

Eine ohnehin schon mächtige Tendenz ergriff und durchsetzte seitdem den deutschen Politikbetrieb. Nachdem Weizsäcker, Jahrgang 1920, eine fortwirkende Kollektivschuld der Deutschen formal zurückgewiesen hatte, fuhr er nämlich fort: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.“

Damit ist eine blutsmäßig vererbte Kollektivhaftung festgestellt. „Haftung“, das mußte der Jurist Weizsäcker wissen, bedeutet etwas anderes, Verbindlicheres als „Verantwortung“. Sie kann von der Gegenseite rechtmäßig eingefordert werden. Umgekehrt leitet sich daraus für die Nachgeborenen der Zwang ab, rechtlich, politisch, wirtschaftlich und moralisch für etwas zu büßen, was sie gar nicht zu verantworten haben.

Diese Mischung aus Schuldbekenntnis, Moralismus und nihilistischem Rechtsverständnis, die die deutsche Politik in weiten Teilen beherrscht, war erstmals 1965, in der sogenannten „Ostdenkschrift“ der Evangelischen Kirche, als Konzept entwickelt und ausformuliert worden. Die EKD bezog darin Stellung zum deutsch-polnischen Verhältnis. Als Präsident des Evangelischen Kirchentags hatte Weizsäcker aktiv daran mitgewirkt. In der Denkschrift wurde gefordert, „Begriff und Sache der Versöhnung auch in das politische Handeln als einen unentbehrlichen Faktor einzuführen“.

Konkret hieß das, vom „Unrecht der Vertreibung“ nicht zu sprechen, „ohne daß die Frage nach der Schuld gestellt wird. Im Namen des deutschen Volkes wurde der Zweite Weltkrieg ausgelöst und in viele fremde Länder getragen. Seine ganze Zerstörungsgewalt hat sich schließlich gegen den Urheber selbst gekehrt. (...) Wir müssen aber daran festhalten, daß alle Schuld der anderen die deutsche Schuld nicht erklären oder auslöschen kann.“

Wenn die deutsche Schuld aus historischen Erklärungszusammenhängen herausfiel, dann war sie wohl metaphysischer Natur. Die Konsequenz lautete, daß auch die deutsche Politik von besonderer Qualität sein müsse. Sie sollte nicht interessengeleitet, sondern mußte moralisch sein, das heißt, sie stand unter dem Vorbehalt einer ursächlichen deutschen Schuld und einer permanenten, in der Praxis immer mehr ausgeweiteten Wiedergutmachungspflicht.

Zwar beharrten die Bundesregierung und das Bundesverfassungsgericht auf den juristischen Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, doch der moralische Druck, unter den die Politik sich setzen ließ, hinderte sie daran, die Verzichts- und Vorleistungen, die in den seit 1970 geschlossenen Ostverträgen enthalten waren, mit Entschiedenheit geltend zu machen. Sie wurden von der Gegenseite daher als selbstverständlich entgegengenommen. Das Konzedieren deutscher Schuld als die Grundlage der Politik forderte sie geradezu heraus, Deutschland immer neue Schuldtitel zu präsentieren.

Das alles konnte Richard von Weizsäcker mitverfolgen. Beim Abfassen der 8.-Mai-Rede muß ihm klar gewesen sein, daß sie diese Entwicklung weiter vorantreiben würde! Ihre Fernwirkung kann gar nicht überschätzt werden. In den letzten 25 Jahren sind die politischen Tugenden, die in Deutschland zu keiner Zeit überreichlich vorhanden waren, dem Land so gut wie ganz abhanden gekommen. Um als Volk und als Staat zu überleben, braucht es bestimmte Eigenschaften: Selbstsicherheit, Disziplin, Wachsamkeit, starke Nerven, Realitäts- und rationaler Gefahrensinn, auch Willen zur Macht und zur Selbstbehauptung.

Letzteres meint die Fähigkeit, den physischen und moralischen Angriff auf sich mit gebotener Entschiedenheit zurückzuweisen. Dazu braucht es, gewissermaßen als letzte Verteidigungslinie, ein unanfechtbares nationales Ehrgefühl, wie Adenauer es demonstrierte, als er ungebeten den roten Teppich betrat, auf dem ihn die Hohen Kommissare der Siegermächte erwarteten.

Dieses Gefühl ist Deutschland ausgetrieben worden, das heißt, ein letztes Mal regte es sich 1989/90, als Helmut Kohl die geschichtliche Gunst der Stunde nutzte und die staatliche Einheit mit der DDR maßgeblich befördern half, auch indem er die Einwände der inneren Bedenkenträger souverän beiseite wischte. Wer mag sich noch an sie erinnern? Als dann der israelische Ministerpräsident die Frage in den Raum stellte, ob die Wiedervereinigung nicht die Möglichkeit in sich berge, daß der Holocaust sich wiederhole, erteilte Kohl  ihm eine entschiedene Abfuhr. Auf die Mitteilung des US-Präsidenten George Bush, die Polen drängten auf eine sofortige Grenzgarantie, erwiderte Kohl, der Grenzverlauf stehe nicht in Frage, aber die Bestätigung müsse in würdiger Form durch den gesamtdeutschen Souverän stattfinden. Millionen Vertriebene, zwei Millionen Tote, oft elendig umgekommen – auch Deutschland habe Anspruch auf Selbstachtung. Welcher deutsche Politiker würde es noch wagen, diesen Begriff gegen Vorwürfe oder einseitige Forderungen aus dem Ausland in Stellung zu bringen? Aber auch Kohl hatte sich politisch damit erschöpft und spielte fortan mit der D-Mark Roulette.

Statt dessen Unterwürfigkeit, Betroffenheit allenthalben, historische Halbbildung, eine Überspanntheit, die aus verinnerlichtem Schuldgefühl und uneinlösbarem humanitaristischen Sentiment kommt. Zugleich ist man außerstande zu echter Verantwortung, was heißt: die Konsequenzen seines Handelns zu überschauen und zu tragen. Dazu das kindliche Bedürfnis, von allen geliebt zu werden, was die anderen zur Erpressung verleitet. Auch jetzt, als Griechenland die Reparationskeule auspackte, um seinen Milliardenforderungen Nachdruck zu verleihen, da sah und spürte man, wie deutsche Politiker innerlich strammstanden. Sie hatten nichts anderes gelernt.

Über die Weizsäcker-Rede am 8. Mai 1985 ist also noch zu sagen:  Sie hat das Land moralisch und politisch wehrlos gemacht.

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